Gemeinschaften werden von gemeinsamen Geschichten, von Legenden zusammengehalten. Diese sind verknüpft mit Werten, aus denen Gesetze und Ordnungen hervorgehen. Will ein Staat stärker werden und kann gerade keinen Krieg vom Zaun brechen, dann bietet sich Nation-building durch aufpolierte Mythen an. Ein wunderbares Zeugnis dafür sind die „Römischen Altertümer“ des Dionysios von Halikarnassos. Eine Ausgabe von 1563 zeigt, wie sehr man sich auch auf diesem Gebiet immer wieder an der Antike orientierte. Denn was wäre eine bessere Blaupause für die Stärkung einer Gemeinschaft gewesen als die Geschichte Roms? Was in den USA der Mythos des Tellerwäschers ist, der es zum Millionär bringt, war im Europa des 16. Jahrhunderts das kleine Dorf am Tiber, das sich binnen weniger Jahrhunderte in den elitären Kreis der Weltmächte hochgekämpft hatte.
Artikeltext:
Gelenius: Meister der alten Sprachen und Drucke
Beginnen wir mit unserer Ausgabe im Taschenformat, im winzigen Duodez, wie die Fachleute sagen. Gedruckt wurde das Buch 1563 in Lyon bei Antoine Vincent von dem Drucker Symphorier Barbier, wie uns das sogenannte Kolophon verrät, jene Druckermarke auf der letzten Seite.
Es handelt sich um eine Gesamtausgabe der „Römischen Altertümer“ des griechischen Gelehrten Dionysios von Halikarnassos (Achtung: Dionysios, nicht Dionysos, mit dem griechischen Gott des Rausches hat der Name nichts zu tun!). Nennen wir ihn für den Moment einen Gelehrten, da er nicht so recht in eine Schublade passt. Ein Gelehrter nicht geringeren Niveaus besorgte die Übersetzung des Werkes vom Griechischen ins Lateinische: Sigismund Gelenius (1497–1554), ein böhmischer Philologe, der zu den größten Humanisten seiner Zeit zählte und eng mit Erasmus von Rotterdam zusammenarbeitete. Wie damals üblich begegnete man Koryphäen seines Rangs keineswegs auf universitären Lehrstühlen, sondern eher in Schulen oder Druckereien, wo zu ihrer Arbeit die Herausgabe oder Übersetzung antiker Schriften gehören konnte.
Gelenius starb 1554, doch noch 1549 konnte er seinen lateinischen Dionysios in Lyon herausbringen. Unser Druck ist ein Nachdruck, der davon zeugt, wie gut sich dieses Werk verkaufte.
Wie Gelenius korrekterweise gleich auf der Titelseite klarstellt, übersetzte er die ersten 10 Bücher selbst, für das nur fragmentarisch überlieferte 11. Buch bediente er sich bei der älteren Übertragung von Lapus Biragus, der ersten ins Lateinische überhaupt von 1480. Nehmen wir das als diskrete Erinnerung daran, dass wir uns hier lange vor Einführung eines Urheberrechts befinden. Da zeugte es schon von Aufrichtigkeit, wenn man angab, von wem man da etwas übernommen hatte …
In der Einleitung widmet Gelenius das Buch Johann Rudolf Stör von Störenberg, von 1542 bis 1570 Abt des Klosters Murbach am Fuß des Großen Belchen im südlichen Elsass. Die Vogesen liegen nicht weit weg von Basel, möglicherweise hatte sich der Abt schon zuvor als Gönner erwiesen. Vielleicht hoffte Gelenius aber auch nur auf die künftige Gunst des Herrn Abtes. Das Benediktinerkloster Murbach war nämlich gerade im Jahr vor der Drucklegung, 1548, von Kaiser Ferdinand I. in den Rang einer Fürstabtei erhoben worden und besaß nun Sitz und Stimme im deutschen Reichstag. So jemanden durfte man durchaus hofieren …
Geschichte neu gedacht
Was hat es nun mit diesem Dionysios und seinem Werk auf sich? Geboren wurde der Autor wohl um 54 v. Chr. im kleinasiatischen Halikarnassos. Sein Leben fiel damit in eine bewegte Zeit, nämlich mitten in den römischen Bürgerkrieg, der erneut nach der Ermordung Caesars an den Iden des März 44 v. Chr. ausbrach. Dionysios erlebte als junger Mann den Aufstieg Octavians und wie dieser zum „Augustus“ wurde. Damals lebte Dionysios wohl schon in Rom.
Ähnlich wie sein Übersetzer Gelenius war auch Dionysios ein Sprachfanatiker. Berühmtheit erlangte er durch seine Traktate zur Redekunst, der Rhetorik. Im damals heftig diskutierten Streit, welches Strömung des Griechischen das eleganteste und von den Rednern und Schriftstellern vorzuziehen sei, machte er sich stark für die attizistische Richtung. Diese hatte sich die literarischen Größen Athens als stilistisches Vorbild auserkoren. Und sein feingeschliffenes attische Griechisch wurde fortan zum Markenzeichen des Dionysios. Als Privatgelehrter und Hauslehrer publizierte er meinungs- und wortstark zu dem Thema. Ergebnis: Die heutigen Philologen haben ihn in die Schublade „Rhetor“ eingeordnet. Suchen Sie mal nach seinen „Altertümern“ in Handbüchern zur griechischen Literaturgeschichte. In den meisten finden Sie nicht mehr als einen Hinweis in Klammern, dass dieser große Rhetor und Kritiker auch noch dieses Buch geschrieben hat. Dabei umfasste das Werk beachtliche zwanzig Bücher und war wegweisend für ganze Generationen von Historiografen wie Cassius Dio, Appian und Plutarch. Nebenbei ist es eine der ganz wenigen Schriftquellen zur römischen Frühgeschichte, die wir haben.
In der späten Republik war das Griechische am Tiber en vogue. Unter anderem hatten die römischen Aristokraten nämlich gemerkt, wie sie sich nobilitieren und gegenseitig übertrumpfen konnten: Sie „fanden“ plötzlich durch intensive genealogische Forschungen (und Verdrehungen) griechische Ahnen; im besten Fall reichte der Stammbaum dann wie bei den Juliern zu einem A-Klasse-Helden wie dem halbgöttlichen Trojaner Aeneas. Julius Caesar und Octavian/ Augustus konnten damit ihre Abkommenschaft von Aeneas’ Mutter, der Göttin Aphrodite/ Venus, hervorragend im Propagandakampf ausschlachten.
Doch damit nicht genug. Auch das römische Gemeinwesen als Ganzes atmete noch sehr den Hauch des Italischen, mithin des Bäurisch-Provinziellen. Den pusteten die „Altertümer“ des Dionysios kraftvoll hinweg. „Von den Ursprüngen der Römer“ umfasste zwanzig Büchern, von denen heute noch die Bücher 1 bis 10 erhalten sind sowie Teile des 11. Buches und ein paar Fragmente. Der Schwerpunkt liegt auf der sagenumwobenen Frühzeit. Um es genauer zu sagen: Auf der Frühzeit, deren Sagen erst noch gewoben und kanonisiert werden mussten. Wenn bis vor kurzem jedes Kind wusste, wie das mit Romulus und Remus, mit der Wölfin und dem Raub der Sabinerinnen gewesen war, dann verdanken wir das auch der Erzählung des Dionysios. Er schrieb den Römern eine respektable Herkunft ins Stammbuch. Da wird der Raub der Sabinerinnen vom großangelegten Frauenraub einer Räuberbande zu einer durchaus gewollten und letztlich friedlichen Verbrüderungsaktion mit Nachbarn im beiderseitigen Interesse. Der Brudermörder Romulus etabliert als weiser Gesetzgeber eine Ordnung, die noch zur Zeit des Dionysios bestand – und von der erst die modernen Historiker wieder erkannten, dass sie keineswegs gleich mit der Gründung entstanden war, sondern sich erst viel später entwickelte. Es ist wie im Film „Der Mann der Liberty Valance erschoss“: „Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende!“ Dionysios machte die Legende zur Wahrheit. Systematisch verknüpfte er die griechische und die römische Geschichte und arbeitete unermüdlich heraus, warum Rom zur Weltmacht aufgestiegen war: Wegen der straffen Organisation, dem festen Willen, der unnachgiebigen Tatkraft der Römer. Ja, es hatte gar nicht anders kommen können, Rom musste ein gewaltiges Imperium werden.
Die Renaissance der Nebelmaschine
Zur Zeit der Humanisten war Dionysios ein gern gelesener Autor. Seinem anspruchsvollen Attisch waren allerdings nur die wenigsten Leser gewachsen. Gelenius half da aus mit seiner Übersetzung in die lingua franca der Gebildeten. Und die handschriftlichen Bemerkungen im Vorsatz verraten tatsächlich, dass dieses Buch von Gebildeten gelesen wurde. Da erklärt nämlich ein Besitzer im Jahr 1782, dass er an den Seitenrändern die Seitenzählung der Ausgabe von Friedrich Sylburg vermerkte. Solche Parallelzählungen kennen Historiker und Philologen auch heute noch. Vor allem früher hat man bisweilen nicht nach allgemein anerkannten Abschnitten zitiert, wie Sie es vielleicht aus der Bibel kennen, sondern gerne nach Seitenzahlen. Sylburgs Ausgabe von 1586 war allerdings in einem größeren Format gedruckt als unsere, nämlich im Oktav. Damit konnte man hier nicht einfach die Seiten genauso zählen. Wenn nun in einem anderen Buch Dionysios nach der verbreiteten Ausgabe Sylburgs zitiert wurde und unser Besitzer die Stelle in seiner ebenso soliden Gelenius-Edition auffinden wollte, dann kam ihm diese Parallelzählung am Rand zuhilfe. Auch finden wir dort die lateinischen Titel von Abschnitten, wie sie frühneuzeitliche Herausgeber hinzugefügt hatten. Man wusste dann schneller, worum es an der Stelle ging.
Wir sehen also, dass diese Ausgabe offenbar philologisch-wissenschaftlich genutzt wurde. Doch diese Nutzung erlaubte erst die weltliche Verwertung: In kaum einem Buch lernt man so anschaulich, wie man effektiv die Nebelmaschine anwirft, um von moralischen Schwächen in der eigenen Geschichte abzulenken und seine Herkunft aufzuwerten und zur Identitätsfindung zu nutzen. Davon sollte die Zeit der Nationalstaaten noch profitieren.
Was Sie sonst noch interessieren könnte
Unsere Ausgabe findet sich nicht im Internet, die ältere des Friedrich Sylburg gibt es hier bei Google.
Wenn Sie regelmäßig unseren Newsletter lesen, dann erinnern Sie sich vielleicht noch an Sigismund Gelenius als Herausgeber der Naturgeschichte des älteren Plinius.