Haben Sie je von Babička gehört? Nein? Nun, wenn Sie in Tschechien leben würden, hätten sie diese Geschichte wahrscheinlich schon in der Schule gelesen. Sie ist dort mit rund 350 Auflagen eines der, wenn nicht das meist verkaufte Stück Prosa tschechischer Sprache, und zwar nicht nur wegen seines Inhalts. Mit diesem Buch wurde das Tschechische zur Literatursprache. Aber das wäre heute natürlich kein Grund mehr, Babička zu lesen. Gut, dass der Plot von Babička immer noch fasziniert: Er schildert eine alte Frau, die ihr brutales Schicksal nicht verbittert, sondern weise gemacht hat. Mit Hilfe ihrer Erfahrung verhindert sie, dass andere Frauen dasselbe Schicksal erleiden wie sie.
Natürlich hat Babička - Großmütterchen - auch einen Eigennamen, aber den benutzt niemand. Wir begegnen ihr erstmals bei ihrer Ankunft auf dem kleinen Gut ihrer Tochter. Sie kommt nicht als Last, nicht als unerwünschter Pflegefall, sondern um ihr Kind im Haushalt zu unterstützen. Und da steht sie nun, mit ihren wenigen Besitztümern, die in einen Koffer passen, mit ihren weißen Haaren, ihrer altmodischen Tracht und ihren letzten vier Zähnen. Sie ist das Urbild einer verbrauchten Frau, und doch ist sie im Handumdrehen das Herz des kleinen Gutshofs. Ihre Stärke ist es, sich Zeit zu nehmen, für die Kinder, für das Vieh und natürlich für all die Armen und Ungeliebten, die an ihre Türe klopfen. Wer Hunger hat, dem gibt sie ein Stück Brot und oft noch ihre eigene Portion Butter dazu. Wer Sorgen hat, dem hört sie zu. Wer ihren Rat sucht, der erhält ihn, ohne Vorwürfe und Besserwisserei.
Es ist ein idyllisches Dorf, das die Němcová in ihrer Geschichte beschreibt. Und doch verschweigt sie nicht, dass es dort auch Ungerechtigkeiten gibt. Vor allem die jungen Frauen werden zu Opfern: Da ist die verrückte Viktorka, die ein Soldat um den Verstand gebracht hat. Ob sie ihn geliebt hat, als sie ihm einst, vor vielen Jahren ins Feldlager folgte? Was mag ihr dort nur geschehen sein? Die Němcová verrät es uns nicht, überlässt alles unserer Phantasie. Jedenfalls ist die Viktorka einige Monate später allein und schwanger ins Dorf zurückgekehrt. Nein, zu ihren Eltern hat sie sich nicht getraut, da hat sie sich lieber im Wald versteckt. Irgendwo in der Einsamkeit ist ihr Kind zur Welt gekommen. Hat es gelebt oder ist es schon bei der Geburt gestorben? Manche sagen sogar, die Viktorka habe es selbst erstickt. Seitdem hat sie kein Wort mehr gesprochen. Sie lebt im Wald, wenn man das überhaupt Leben nennen kann, dieses freiwillige Straflager in Kälte, Armut und Sprachlosigkeit.
Wie anders ist die Babička mit ihrem Schicksal umgegangen! Auch ihr hat der Krieg Schlimmes getan. Ihren Mann hat man unter die Soldaten gepresst. Für die Preußen musste er gegen die Polen kämpfen. Und dabei hat ihm eine Kanonenkugel das Bein abgerissen. Kläglich verreckt ist er an der Wunde. Niemand hat ihm auch nur einen Schluck Wasser gereicht. Wie hätte die Babička in einem Preußen leben können, das ihren Mann so hat sterben lassen! Da hat sie auf das bisschen Rente gepfiffen, das ihr als Soldatenwitwe zugestanden wäre, und ist ins heimatliche Böhmen zurückgekehrt. Die Finger hat sie sich wundgearbeitet und so ihren Kindern eine Zukunft ermöglicht.
Alles lange vorbei? Aber nein! Gleich zwei Frauen droht in Němcovás Geschichte ein ganz ähnliches Schicksal. Im Gasthof bedient die Kristla, ein sauberes Mädel, das einen unbescholtenen Bauernburschen liebt und von ihm wiedergeliebt wird. Dummerweise hat der arrogante Beamte vom Schloss sich in sie verguckt. Nichts Ernsthaftes. Er ist verheiratet. Aber gegen ein Schäferstündchen hätte er trotzdem nichts einzuwenden. Er droht der Kristla, ihren Geliebten unter die Soldaten zu stecken, wenn sie ihm nicht zu Willen ist. Und tatsächlich, als die Kristla sich ihm verweigert, sorgt er dafür, dass der Bauernbursch eingezogen wird. Das bedeutete damals zwölf Jahre Kriegsdienst. Nur die wenigsten kehrten danach zurück.
Doch nicht nur die einfachen Frauen haben ihre Sorgen. Da ist auch noch die heiß geliebte Tochter der Gräfin. Für die fädelt die treusorgende Mutter eine Ehe ein. Der Freier ist wohlhabend, sieht gut aus. Liebe? Interessiert damals nur am Rande. Und doch liebt die Grafentochter einen anderen mit allen Fasern ihres Herzens. Das wird sie natürlich niemandem sagen. Schließlich hat man sie zu gut erzogen, als dass sie sich gegen einen mütterlichen Befehl auflehnen würde. So siecht sie angesichts ihrer lieblosen Zukunft dahin.
All das sieht die Babička. Was geht es sie an? Schon immer sind Männer zum Dienst gepresst worden, schon immer sind Soldaten gestorben, schon immer haben Frauen lieblose Ehen ertragen. Doch so ist die Babička eben nicht. Sie geht hin und nutzt ihre Möglichkeiten. Allein hat sie keine Macht. Sie ist alt und arm; und trotzdem gelingt es ihr, der Machtlosen, die Mächtigen in die Pflicht zu nehmen. Sie informiert die Gräfen, und so erreicht sie für die beiden jungen Frauen das, was ihr selbst verwehrt blieb: Das Glück, mit dem Geliebten vereint zu sein.
Ein Idyll? Ja, so hat man die Geschichte der Božena Němcová auch nennen wollen, aber zu viele Details von Babička sind biographisch geprägt. Sie war selbst ein uneheliches Kind, Tochter einer Wäscherin, die bei der Herzogin Wilhelmine von Sagan Dienst tat. Die Herzogin muss eine eindrucksvolle Persönlichkeit gewesen sein: reich, schön und mächtig, dazu bestens vernetzt. Fürst Clemens von Metternich soll ihr Liebhaber gewesen sein. Und hier setzt die Legende an: War die Němcová wirklich die Tochter der Wäscherin? Oder die Frucht einer adligen Mesalliance? Ein Kind des Wiener Kongresses, der die gekrönten Häupter Europas an den Wiener Hof führte? Das ist nicht unwahrscheinlich. Jedenfalls sorgte die Herzogin dafür, dass die kleine Wäscherin mit dem unehelichen Kind nicht entlassen wurde, sondern auf dem herzoglichen Gut in Ratibořice eine Stellung bekam und mit dem herrschaftlichen Kutscher verheiratet wurde. Er gab der Němcová seinen Namen. Die erhielt auf Gut Ratibořice eine wesentlich bessere Erziehung, als sie dem unehelichen Bankert einer Wäscherin zu dieser Zeit zugestanden hätte.
Ende gut, alles gut? Nein, denn wie die Großmutter hat die Němcová alles andere als ein friedliches Leben! Sie heiratet einen Patrioten. Vielleicht hat der sie ja mal geliebt. Aber er ist viel zu sehr mit der Nation beschäftigt, um sich um eine Familie zu kümmern. Arbeit? Er pfeift auf seine gut bezahlte Beamtenstelle. Geld bringt er keines heim, dafür prügelt er Frau und Kinder. 1861 flieht die Němcová endgültig aus der gemeinsamen Wohnung. Nun muss sie selbst das Geld für ihre kleine Familie verdienen. Da stirbt ihr Sohn. In dieser verzweifelten Situation träumt sie sich in ihre wohl behütete Kindheit auf Gut Ratibořice zurück und schreibt die Babička.
Man kann es geradezu ein Wunder nennen, mit welchen Zügen sie ihr Alter Ego, die uralte Babička ausstattete. Da ist nichts von der bitteren Furcht vor einem einsamen Alter zu spüren. Im Gegenteil, sie lässt die Babička all das Gute zurückgeben, das sie selbst als Kind auf Gut Ratibořice empfangen hat.
Während wir unsere Rentner oft als überflüssig verleumden, ist die Babička in ihrer hilflosen Machtlosigkeit wirkungsmächtiger denn je. Welches Konzept der Realität näher kommt? Nun, auch im Alter sollte jeder Mensch mitbestimmen können, was er mit seinem Leben anfängt.