Es war keine gute alte Zeit, jene Zeit unter Zar Nikolaus I. von Russland, während der Iwan Turgenew seine Bücher publizierte. Nikolaus I. regierte von 1825 bis 1855. Seine Epoche gilt als eine Zeit der Stagnation, eine Zeit, in der ein machtvoller Staatsapparat damit beschäftigt war, das revolutionäre Gedankengut, das da aus Westeuropa herüberschwappte, nicht nach Russland eindringen zu lassen. Dumm nur, dass viele Adlige nach Frankreich, England und Deutschland reisten. Sie sahen, welch enormer Fortschritt in diesen Ländern erzielt wurde. Was dafür verantwortlich war? Natürlich die Möglichkeit durch Bildung aufzusteigen, als Unternehmer Fabriken zu gründen, und so den Fortschritt zu bringen. Wo aber sollten die Arbeiter für diese Fabriken herkommen, wenn der Bauer an die Scholle gebunden war? Viele russische Intellektuelle sahen deshalb in der Aufhebung der Leibeigenschaft das einzige Mittel, um das agrarische Russland in die moderne Zeit einer industrialisierten Gesellschaft zu führen. Einer von ihnen war Iwan Turgenew, der seine ausgezeichnete Bildung den Erträgen des elterlichen – von Leibeigenen bewirtschafteten – Gutsbetriebs verdankte.
Turgenew entwickelte sich zu einem überzeugten Kämpfer gegen die Leibeigenschaft. Und er tat viel dazu, seine eigene Abscheu unter seinen gebildeten Zeitgenossen zu verbreiten. Mit seiner Geschichtensammlung „Aufzeichnungen eines Jägers“ beeinflusste er das Bild vom russischen Leibeigenen und seinem Herren nachhaltig.
Dafür wandte Turgenew einen häufig genutzten Kunstgriff an: Er schob seine Erzählungen einem scheinbar neutralen Beobachter unter, einem adligen Jäger, der auch in den Hütten der Ärmsten verkehrt. Unbeteiligt beobachtet der, was um ihn herum geschieht. Hört, wie der Bauer genötigt ist, den Gutsverwalter zu bestechen; sieht, welche Grausamkeiten die sich ach so tugendhaft aufspielende Gutsherrin ihrer hübschen Kammerzofe antut. Er registriert besoffene Bauern, mal verprügeln die einen Juden, mal werden sie selbst von ihrem Herrn verprügelt. Er lobt die bäuerliche Duldsamkeit in Krankheit, Leid und Tod und seziert die Palette von gutsherrschaftlichen Fehlern. Denn die Gutsbesitzer sind eine Kaste, die abgeschafft werden muss! Manchmal gutwillig, gelegentlich mutig, immer stolz, aber dafür unglaublich dumm verprassen sie das Geld und hinterlassen ihre Nachkommen mittellos. Die Aufzeichnungen eines Jägers sind keine Wohlfühllektüre: Keine von all den Geschichten Turgenews hat das, was wir als ein Happy End bezeichnen würden.
Das Problem daran ist, dass Turgenew keine Reportagen schrieb, sondern Literatur. Er gestaltete seine Charaktere, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Turgenew brach für die Abschaffung der Leibeigenschaft eine Lanze, und dazu zeigte er, welch enormen Schaden sie anrichtete. Dafür überspitzte er natürlich. Doch seine Leser nahmen und nehmen dies nicht wahr. Sie unterstellen Turgenew, er habe die ungeschminkte Realität beschrieben.
Und so wurde Turgenew einer von denen, die im 19. Jahrhundert den Mythos vom russischen narod, dem russischen Volk erschufen. Das hatte es vor dem 19. Jahrhundert noch gar nicht gegeben. Die Narodniki unter den Intellektuellen glaubten aber fest daran, und waren sich sicher, im Volk Verbündeten gegen den Zaren zu finden. So brachen sie im Frühjahr des Jahres 1874 auf, um den Bauern die Bildung zu bringen. Die Sache ging schief, denn die Landbewohner wussten genauso wenig mit den Intellektuellen anzufangen wie die Intellektuellen mit den Landbewohnern. Sehr zur Überraschung der Narodniki war die Landbevölkerung nämlich sozial genauso differenziert wie die der Städte. Eine großangelegte Polizeiaktion machte der Bildungsoffensive der Narodniki ein jähes Ende. Sie wäre ohnehin zum Scheitern verdammt gewesen.
Übrig geblieben ist der Mythos vom russischen Volk, das so gut ist, aber ungebildet; und das deshalb die Unterdrückung der Regierung still leidend duldet. Mich würde wirklich interessieren, welche Geschichten Turgenew heute erzählen würde.