„Das tiefste Buch, das die Menschheit besitzt.“ So sah Friedrich Nietzsche (1844-1900) selbst in aller Bescheidenheit sein wohl populärstes Werk, „Also sprach Zarathustra“. Damals sorgte der junge Wilde für Aufsehen in der europäischen Geisteslandschaft. Getreu seiner Selbsteinschätzung „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit“ postuliert auch der Untertitel des „Zarathustra“: „Für Alle und Keinen“. Jeder sollte es lesen, aber verstehen wird es keiner.
Seit dem Erscheinen des Werks 1883–1885 rätseln Literaturtheoretiker und Philosophen, was Nietzsches persönlichstes Buch eigentlich zusammenhält, was sein roter Faden ist. Eine Handlung kann man kaum ausmachen. Der Denker Zarathustra wird von Zuhörern verspottet, er beschliesst, seine Ideen nur noch Ausgewählten zu eröffnen. Das Ende des Buchs gipfelt in Zarathustras Erkenntnis der „ewigen Widerkunft des Gleichen“ – alles wiederholt sich ewig, Strafe für die Trägen (das Rumlümmeln auf dem Sofa endet nie), Belohnung für die Aktiven (unendlich viele Projekte umsetzen können). Soweit die Handlung. Stilistisch ist „Zarathustra“ vielfältig: erzählende Passagen, Dialoge, Gedichte und Parodien auf die grossen religiösen Texte. Warum soll man das lesen?
Man kann Nietzsches virtuosen Umgang mit der Sprache geniessen, man kann auch seine Auseinandersetzung mit Bibelstellen geistreich finden, man entdeckt Ausdrücke, die in das allgemeine Wortgut eingegangen sind („Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“) und kluge Aphorismen – all das kann man in Nietzsches „Zarathustra“ geniessen. Man muss aber nicht. Diese schreibende Dynamitstange spaltet seit jeher in Jünger und Verächter. Konzepte wie die Überwindung des alles verachtenden Nihilismus durch den Übermenschen, ein Tatwesen, das sich seine eigene Moral neu schafft (und daher über die alten Werte erhaben ist), haben durch die jüngere Geschichte einen schalen Beigeschmack bekommen. Die Nazis lasen eine sozialdarwinistische Legitimierung ihres Herrenmenschen heraus. Chaim Weizmann, den ersten Präsidenten Israels, hinderte das nicht daran, das Buch seiner späteren Frau überschwänglich zur Lektüre zu empfehlen.
Nietzsche polemisiert unter anderem gegen die vermeintlich weltabgewandten Achtsamkeitsmeditationen Buddhas. Dabei nennt er seinen eigenen Stil „halkyonisch“, also seelisch ausgeglichen und ruhig. Auf geistig ruhige Art gegen den Menschen als antriebloses Herdentier zu wettern und gleichzeitig aktives Handeln zu fordern – wie das geht, lernt man bei Nietzsche.
Und wer den „Zarathustra“ überhaupt nicht versteht, kann sich trösten. In seinem späteren Werk „Ecce homo“ erzählt Nietzsche von einer Begegnung mit einem Doktor Heinrich von Stein, der ihm klagt, nichts im „Zarathustra“ verstanden zu haben. Darauf Nietzsche: „das sei in Ordnung: sechs Sätze daraus verstanden, das heisst: erlebt haben, hebe auf eine höhere Stufe der Sterblichen hinauf als ,moderne‘ Menschen erreichen könnten.“ Nietzsche vermutete schon, es werde eines Tages „auch eigene Lehrstühle zur Interpretation des Zarathustra“ geben. Ganz so weit sind wir noch nicht, aber wir sind ja auch alle noch weit entfernt vom Übermenschensein.