Fast sechs Millionen Deutsche emigrierten im 19. Jahrhundert in die USA. Die schleichende Verarmung der Bauern und Fabrikarbeiter durch die einsetzende Industrialisierung sorgte für genug Auswanderwillige. Spätestens nach dem Scheitern der Revolution von 1848 lockte Amerika auch viele Liberale mit dem Versprechen größerer Freiheiten.
Aber auch für Schweizer führte der Weg ins Land der endlosen Möglichkeiten häufig erst über die deutschen Hafenstädte Hamburg oder Bremen. Einer dieser Auswanderer war Conrad Conzett (*1848 bis +1897). Aus der beschaulichen Schweizer Heimat Chur zog es ihn immer wieder in weite Welt: Dreimal trat er die Fahrt über den großen Teich an, dreimal kehrte er zurück. Seine Erfahrungen fasste der gelernte Buchdrucker in einem Ratgeber für künftige Auswanderer zusammen, das er 1871 im Selbstverlag veröffentlichte. Wir schauen uns das kleine Büchlein, das randvoll mit nützlichen Informationen ist, genauer an. Und sind erstaunt davon, an was der Autor alles gedacht hat.
Artikeltext:
Auswandern – für viele ein gutes Geschäft
Im 19. Jahrhundert sah Europa eine nie zuvor dagewesene Massenauswanderung. Der Motor war Hunger (die verheerende „potatoe famine“ in Irland), religiöse Verfolgung (Pogrome gegen Juden in Russland) oder wirtschaftliche Not. So hatte die Industrialisierung die Situation der deutschen Bauern dermaßen verschlechtert, dass gut ein Viertel von ihnen Mitte des 19. Jh. nicht mehr von den Erträgen ihres Landbesitzes leben konnten. Eine Zukunft in Amerika schien vielversprechend: Ein Kleinbauer, der in Deutschland nur einen halben Hektar Land besaß, konnte sich in wenigen Jahren in den USA ein Vielfaches von bis zu 64 Hektar erarbeiten. Es waren derartige Hoffnungen, die die Leute dazu bewegten, ihr gesamtes Vermögen auf eine Karte zu setzen und die Emigration zu wagen.
Denn eine Überfahrt war teuer. Sie kostete etwa ein Jahresgehalt eines Arbeiters. Und die Reedereien verdienten hervorragend daran. Auf der Fahrt von Europa nach New York lud man die Dampfer mit Passagieren voll, auf der Rückfahrt mit Fracht. Voll ausgelastet rentierte sich die Investition in so ein Auswandererschiff bereits nach vier oder fünf Fahrten. Dass Gaststätten und Unterkünfte in den Hafenstädten ihre Preise ebenfalls ordentlich hoben, versteht sich von selbst. In Hamburg, Bremen, Le Havre und Southampton brummte das Geschäft.
Damals wie heute witterten auch viele Betrüger die Chance, Auswanderern unter falschem Vorwand das Geld aus der Tasche zu ziehen. Weil die Zahl der Betrugsversuche drastisch stieg, verbot man 1825 in Hamburg das Auswandern. Bis man merkte, dass von diesem Verbot hauptsächlich die Konkurrenz in Bremen profitierte – und der Senat das Gesetz wieder aufhob.
Der ultimative Ratgeber für Auswanderer
Um vor solchem Betrug zu warnen und potentiellen Auswanderern einen treuen Ratgeber an die Hand zu geben, veröffentliche Conrad Conzett 1871 sein Buch Nach Amerika! Handbuch für Auswanderer. Conzett, der damals bereits einige Jahre in den USA gelebt und gearbeitet hatte, wollte einen umfassenden, unabhängigen und preisgünstigen Ratgeber für alle Amerika-Auswanderer schreiben. Bereits existierende Ratgeber, so der Autor, seien entweder unvollständig, zu teuer oder voreingenommen – weil manche Bundesstaaten Autoren dafür „sponserten“, positiv über sie zu berichten.
Eine „moderne“ Leserin wie ich war überrascht davon, wie wenig sich am Grundgerüst so eines Auswander-Ratgebers eigentlich bis heute geändert hat. Obwohl man die technische Infrastruktur des 19. Jahrhunderts wohl kaum mit dem des 21. vergleichen kann, scheinen die Grundfragen, die den Auswanderer beschäftigen, immer noch dieselben: Ist das wirklich eine gute Idee oder habe ich eine allzu rosige Vorstellung von dem, was mich erwartet? Wohin genau soll ich auswandern? Wie komme ich dort an Geld? Was mache ich mit der Krankenversicherung? Wie verdiene ich drüben mein Geld? Welche Berufe sind gerade nachgefragt und welche nicht? Was kostet das Porto, wenn ich irgendwann Sehnsucht nach deutschem Brot bekomme und mir von meiner Familie ein Care-Paket schicken lassen will? Auf all diese Fragen bietet der Ratgeber Antworten und nützliche Tipps.
Warum man auswandern sollte … und warum nicht
Conzett eröffnet sein Büchlein mit der üblichen Warnung: Auswandern will wohl überlegt sein. Über seine Zeitgenossen schreibt er: „Mit der dehnbarsten Phantasie betrachtet man hier vielfach die amerikanischen Verhältnisse, ja man denkt sich ein herrliches Paradies und träumt von ungeheuren Reichtümern Amerikas, die nur in Empfang genommen werden müssen.“ Von dem Irrglauben solle man bitte ablassen. Es seien aber durchaus „kühne, strebsame und tüchtige Leute [...], die nach dem glücklichen Amerika ziehen“ und wenn man es wohl überlegt anstelle, könnte man es in Amerika durchaus zu etwas bringen.
Kultur, Geographie, Berufe, Sprache, Preise
Der Hauptteil des Buches stellt systematisch alle wichtigen Bereiche vor, über die man etwas wissen sollte. Es gibt nicht nur eine Auflistung der wichtigsten Berufszweige, sondern auch detaillierte Informationen dazu, wie gut die Verdienstmöglichkeiten und wie groß die Nachfrage bzw. die Konkurrenz ist. Zum Beispiel werden allgemein in Amerika sehr viele Anstreicher gesucht, weshalb man hier leicht Arbeit findet, ohne besondere Qualifikationen zu haben. Als Apothekergehilfe allerdings ist die Nachfrage nicht so groß. Dementsprechend benötigt man sehr gute Fähigkeiten und idealerweise gute Beziehungen, um ein Anstellung zu ergattern. Drittens gibt der Autor sogar konkrete Auskunft dazu, in welchen Städten welche Berufe besonders gefragt sind. Als Goldschmied wären Sie zum Beispiel in Massachusetts, New York oder Chicago gut beraten gewesen.
Des Weiteren enthält das Handbuch Informationen über die einzelnen Bundesstaaten (Geographie, Klima, wichtige Städte), Preise wichtiger Alltagsgegenstände (Depeschen, Briefporto), Fahrpläne der Überseedampfer und wichtiger Eisenbahnlinien, die Kultur der Amerikaner und, als Bonus, einen Crashkurs zum Englischlernen. Denn eins hat sich bis heute nicht geändert: Beherrschen Sie die Sprache Ihrer neuen Heimat, öffnet Ihnen das Tür und Tor. Tun Sie es nicht, haben Sie ein Problem.
… aber das Wichtigste: Bier!
Im Allgemeinen findet Conrad Conzett, dass sich Sitten und Kultur der Deutschen und der Amerikaner nicht allzu sehr unterscheiden. Besonderes Vergnügen haben mir allerdings drei Punkte bereitet, die ich Ihnen nicht vorenthalten will. Erstens. Die amerikanischen Frauen sind fauler als die deutschen. Sie hassen die Hausarbeit, lassen sie wann immer möglich von Dienstmädchen verrichten und geben zu viel Geld für Kleidung aus. Zweitens: Was die Ladenöffnungszeiten angeht, waren die USA Deutschland schon 1870 weit voraus. Damals ging man wohl mit Vorliebe abends von 7 bis 11Uhr in der Stadt spazieren und shoppen – denn die Läden waren entsprechend lange geöffnet. Und zu guter Letzt: Es gab auch gutes Bier! Auswanderer durften also beruhigt sein, denn „des Deutschen Lieblingsgetränk, das Lagerbier, wird auch in Amerika, meistens in vorzüglicher Qualität, kredenzt.“
Conrad Conzett: Der Mann hinter dem Buch
Conrad Conzett wurde im Revolutionsjahr 1848 als Sohn eines Schuhmachers in Chur geboren. Nach langem Streit mit seinen Eltern darüber, ob er studieren durfte oder nicht, ergriff er den Beruf des Buchdruckers. Schon als junger Mann wollte er über den Tellerrand seiner Schweizer Heimat hinausblicken, ging erst nach Leipzig und später dreimal für längere Zeit nach Amerika. Dort arbeitete er als Eisschneider, bei einem Coiffeur und gründete schließlich eine eigene Druckerei und zwei Zeitungen. Sowohl er als auch seine Frau Verena Conzett waren sozialistisch geprägt und der Arbeiterbewegung sehr verbunden, wobei ihr politisches Engagement sie wiederholt in Schwierigkeiten brachte. Nach einigen schweren Schicksalsschlägen nahm sich Conrad Conzett 1897 in Zürich das Leben. Seine Frau führte die damals kurz vor dem Konkurs stehende Druckerei weiter und machte Conzett & Huber zu einem bedeutenden Verlag. Die Begeisterung für Bücher wird in der Familie Conzett bis heute fortgeführt – so auch von Jürg Conzett, dem Urenkel Verena Conzetts und dem Herausgeber von Bookophile.
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