1796 legt ein Schotte namens John Stedman ein autobiographisches Buch vor, von dem die Allgemeine Literatur-Zeitung schrieb, man habe es beim Lesen aufgrund der vielen Beschreibungen barbarischer Handlungen mehr als einmal weglegen müssen. In diesem Buch beschreibt der Autor die von ihm bereiste Kolonie Surinam: Ihre Geschichte, Botanik, die Geographie – und die unmenschliche Behandlung der Sklaven dort. Er trifft damit den Nerv der Zeit.
Artikeltext:
Im Land der Plantagen und Urwälder
Surinam war eine niederländische Kolonie an der Nordküste Südamerikas, die noch heute als Republik Suriname existiert. Hier bauten die Niederländer auf Plantagen Zucker, Kaffee und Tabak für den europäischen Markt an. Bewirtschaftet wurden die Plantagen von Afrikanern, die per Schiff in die Kolonie verschleppt und auf den Märkten als Sklaven an die Plantagenbesitzer verkauft wurden. Viele von ihnen versuchten, den unmenschlichen Bedingungen auf den Plantagen zu entkommen und flohen in die Sümpfe und Urwälder in Surinams Hinterland abseits der gerodeten Gegenden an der Küste. Da die Sklavenfänger sich nicht in das unwegsame Terrain trauten, entstanden über die Jahre zahlreiche Dörfer ehemaliger Sklaven. Von hier überfielen die Entflohenen auch die Plantagen und befreiten noch mehr Sklaven, die sich ihnen anschlossen. Für die Kolonialverwaltung wurden diese Aufständischen zu einer echten Gefahr, also entsandten die Niederlande eine Sonder-Brigade der Armee in die Kolonie, die gegen die Aufständischen vorgehen sollte. In dieser Einheit diente John Gabriel Stedman (1744-1797), der seine Erinnerungen an das Land später veröffentlichen sollte.
In „The Narrative of a Five Years Expedition against the Revolted Negroes of Surinam“ beschreibt er eindrücklich das, was er in den fünf Jahren in Surinam erlebt hat. Er schreibt von den entbehrungsreichen Streifzügen durch Sumpf und Dschungel Südamerikas, vom Fieber, das die Männer hinwegraffte, von grausigen Verwundungen am eigenen Leib. Und von seiner innigen Liebe zu einer gewissen Johanna, von der später noch die Rede sein wird.
Gleichzeitig gibt er sich Mühe, die Geographie des Landes anschaulich zu beschreiben, ebenso wie Städte, Tiere, die Botanik und die Instrumente der Indios. Doch es sind die persönlichen Eindrücke der Sklavenhaltergesellschaft, die die Leser nachhaltig berührten.
Stedman schreibt erschüttert von der alltäglichen Grausamkeit, mit der die Sklaven in Surinam behandelt wurden. Er berichtet von diabolischen Strafen, die selbst für unscheinbare Vergehen auferlegt wurden und von der Ohnmacht, mit der die Sklaven den Launen und der Willkür ihrer Besitzer ausgeliefert waren. Belassen wir es bei einem Beispiel: Stedman berichtet von einer Herrin, die das Baby ihrer Sklavin in den Fluss warf, weil sie das Weinen des Kindes störte. Die Mutter versuchte erfolglos ihr Kind zu retten –und erhielt anschließend 200 Stockhiebe für ihren Ungehorsam. Stedman beschreibt viele Fälle wie diesen und hält die Unmenschlichkeit in eindrücklichen Zeichnungen fest. Auf Grundlage seiner Zeichnungen entstanden Kupferstiche von William Blake, die große Bekanntheit erlangten.
Die Sache mit der Liebe
Es ist erwähnenswert, dass das, was wir lesen, nicht immer das ist, was Stedman erlebt hat. Sein Bericht wurde, bevor er 20 Jahre nach Stedmans Rückkehr veröffentlicht wurde, stark überarbeitet. Einige Passagen gefielen den Verlegern nicht, andere änderte Stedman selbst, der inzwischen ein ehrenwerter Offizier mit einer Familie war und sich anders darstellen wollte als in seiner Jugend. Da Stedmans Originalmanuskript 1978 entdeckt wurde, wissen wir heute, dass einige Sachverhalte mit einer gewissen künstlerischen Freiheit beschrieben werden. Nehmen wir nur Stedmans große Liebe Johanna, von der im Narrative oft und in blumigen Worten die Rede ist. Wir lesen, dass Johanna eine Mulattin war, wie man damals eine Sklavin mit einer schwarzen Mutter (ebenfalls Sklavin) und einem weißen Vater nannte. Er liebte das Mädchen innig, hatte einen Sohn mit ihr und kauft sie schließlich frei – aber ach, zurück nach Europa wollte sie ihn nicht begleiten, da sie ihre Welt nicht verlassen mochte. Die „gemischt-rassige“ Liebesgeschichte zwischen John und Johanna wird später sogar von Sklaverei-Gegnern separat veröffentlicht; ein freizügiges Portrait von Johanna gehört zu den bekanntesten Stichen aus Stedmans Werk.
Doch: Hier schienen sich Stedman und die Verleger einig gewesen zu sein, dass sich eine Romanze viel besser verkaufen würde als die Wahrheit. Denn bei Johanna handelte es sich laut Originalmanuskript eigentlich um eine Sklavin, die Stedman von deren Mutter erworben hatte. Sie führte seinen Haushalt und auch Sex scheint zu ihren Aufgaben gehört zu haben. Was sie von ihm dachte, wissen wir nicht, wir kennen nur seine Perspektive. Auch wurden die vielen anderen im Originalmanuskript beschriebenen Sexualverhältnisse Stedmans zugunsten dieser Romanze weggelassen – nicht umsonst nennen wir diese Epoche Romantik. Was man gern las, hatte wenig mit dem tatsächlichen Alltag in den Kolonien zu tun.
In vielen anderen Bereichen, vor allem was die Behandlung der Sklaven angeht, gilt Stedmans Bericht jedoch als authentisch. Er wurde in zahlreichen Sprachen veröffentlicht.
Die deutsche Fassung
In unserer Bibliothek steht ein Exemplar der deutschen Erstveröffentlichung von Stedmans Bericht. Stedman’s Nachrichten von Surinam erschien nur ein Jahr nach der englischen Erstausgabe in Hamburg. Es war Band 8 der überaus beliebten Reihe „Neuere Geschichte der See- und Land-Reisen“ in der einer von fremden Orten faszinierten Öffentlichkeit neue Reiseberichte aus aller Welt geliefert wurden. Stedmans Werk wurde dabei stark zusammengekürzt. Die Verleger befanden, dass vor allem die langen botanischen Beobachtungen längst anderweitig besser beschrieben worden waren. Außerdem kürzten sie bei den brutalen Stellen, die man der eigenen Leserschaft nicht in all ihrer Grausamkeit zumuten wollte. Schließlich waren die Leser an „Abenteuern“ in fernen Ländern interessiert. So schreiben die Verleger, sie hätten sich entschieden, die Beschreibungen „zur Schonung des feinern Gefühls unsrer Leser, sehr abzukürzen, zum Theil sie ganz wegzulassen“. Gleichzeitig verurteilen sie, „wie weit es der Mensch in dem verabscheuungswürdigsten aller Raffinements, – der Kunst, den Nebenmenschen zu quälen – zu bringen im Stande“ ist.
Auch Abbildungen finden sich kaum, man verzichtet auf Folter und Gewalt und zeigt stattdessen lieber die schöne Johanna und die Häutung eine Riesenschlange.
Sklaverei und Menschenwürde
Man kann übrigens nicht behaupten, dass Stedman ein Gegner der Sklaverei gewesen wäre. Diese verteidigt er in seinem Bericht immer wieder, sieht sie als unumgänglich an und auch nicht viel schlimmer als die Zustände, die in den ärmsten Teilen der europäischen Bevölkerung herrschen. Was er dagegen kritisiert, ist der grausame Umgang mit den Sklaven und die Behandlung der Schwarzen, als seien sie nicht auch Menschen nach Gottes Ebenbild. Er plädiert also für deutlich mehr Rechte für die Sklaven und damit gehörte er zu den progressiveren Zeitgenossen, zumindest außerhalb der Universitäten.
Sie sehen, Stedman war ein Mensch mit eigenen Überzeugungen. Sein moralischer Kompass mag nur teilweise mit unserem heutigen übereinstimmen. Aber er war eben auch ein Kind seiner Zeit. Und ob er nun die Sklaverei befürwortete oder nicht: Mit seinem Buch leistete er jedenfalls einen Beitrag zu ihrer Abschaffung. Denn er zeigte der Öffentlichkeit in Europa, bei der die Ideen der Aufklärung inzwischen Fuß gefasst hatte, unter welch grausamen Bedingungen die Sklaven in den Kolonien lebten. Sein Bericht war nicht der einzige, aber einer der eindrücklichsten und bekanntesten.
Die Forderungen der Gegner der Sklaverei trugen bald Früchte: In den folgenden Jahrzehnten wurde die Sklaverei nach und nach geächtet. So verbot das Britische Empire den Sklavenhandel 1807, die Sklaverei selbst 1833. In der Kolonie Surinam wurde die Sklaverei 1863 abgeschafft und der Staat zahlte große Entschädigungen – natürlich nicht an die ehemaligen Sklaven, sondern an deren Eigentümer, für den Verlust ihres „Besitzes“ …
Was Sie sonst noch interessieren könnte:
Auf der Seite der SLUB Dresden finden Sie ein Digitalisat der deutschen Ausgabe.
Das englische Original finden Sie auf Archive.org
Hier berichtet die Allgemeine Literatur-Zeitung über Stedmans Buch.
Da die Sklaverei auch 1839 noch in Teilen der Welt ein Problem war, schrieb Thomas Fowell Buxton ein Buch darüber, wie man das Übel der Sklaverei beseitigt.