Tomi Ungerer
(1931-2019)
Der Preis der Gedankenfreiheit
Tomi Ungerer gehört zu den vielseitigsten, produktivsten und unangepasstesten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Das Trauma, in seiner Kindheit immer wieder die Identität wechseln zu müssen, hat er nie überwunden. So schuf er sich mit seinen Zeichnungen eine eigene Welt, in der Außenseiter Freunde finden und es weder Regeln noch Tabus gibt. Ob Ungerer aus finanziellen Gründen bereit war, künstlerische Kompromisse zu schließen, über solche Fragen denkt das MoneyMuseum nach.
Das Elsass: eine kleine Region zwischen zwei großen Ländern, die in ihrer Geschichte schon häufiger die Regierung gewechselt hat. Mal Paris unterstellt, mal Berlin, mal schikaniert von deutschen Beamten, mal von französischen. Das Elsass, ein Land, in dem viele Soldatenfriedhöfe davon zeugen, was Menschen einander anzutun bereit sind. Wie kann ein Kind, das im Jahr 1931 in diesem Land geboren wurde, an eine Idylle glauben?
Artikeltext:
Traumata einer Kindheit
Als der kleine Jean-Thomas Ungerer am 28. November 1931 in Straßburg zur Welt kam, war er das jüngste Kind einer wohlhabenden und selbstbewussten Bürgerfamilie. Sein Vater war ein weltberühmter Spezialist für astronomische Turmuhren. Doch dann starb der Vater plötzlich und unerwartet. Tomi war gerade einmal vier Jahre alt.
Finanzielle Not musste die Familie nicht fürchten. Die Mutter kehrte zu ihren Eltern zurück, und ließ ihren Jüngsten nicht mehr vor die Türe. Die Bürgersfrau wollte jeden Kontakt ihres wohlerzogenen Sohnes mit den Dorfkindern vermeiden. Warum das von Bedeutung ist? Weil sich Tomi schon als Kind gegen diese Bevormundung sträubte. Die häusliche Gefangenschaft endete, als das deutsche Heer im Elsass einmarschierte und die Nazis alle Kinder zwangen, in den Schulen Deutsch zu lernen. Bald wurde jedes französische Wort gnadenlos bestraft.
Jean-Thomas Ungerer passte sich dem an. Er entwickelte sich zum perfekten Chamäleon: Seine Lehrer schätzten Pimpf Hans. Seine Mutter liebte ihren kleinen Franzosen Jean. Und für seine Kameraden war Tomi der unbeschwerte elsässische Lausbub.
Wie absurd eine nationale Identität sein kann, verinnerlichte der inzwischen 13-jährige im Winter 1944/45: im heiß umkämpften Colmar wechselte innert drei Wochen(!)die herrschende Macht und die Unterrichtssprache dreimal: von Deutsch zu Französisch, von Französisch zu Deutsch und wieder zurück zum Französischen.
Regeln konnte einer wie Tomi Ungerer danach nicht mehr ernst nehmen. Er hatte gelernt, wie schnell Gesetze sich ändern und wie willkürlich sie sind. Autorität? Etwas, worüber man am besten Witze macht – und das tat Tomi Ungerer bald von Berufswegen. Er wurde zum Karikaturisten. Wobei das zu bescheiden ist. Tomi Ungerer war ein Künstler, auch wenn er sein Geld als Werbegrafiker, Illustrator, Cartoonist und Autor verdiente.
Glanz und Elend der Vereinigten Staaten
60 Dollar, so witzelte er später immer wieder, genau 60 Dollar hatte er in der Tasche, als er 1956 New York betrat. Die waren binnen kürzester Zeit aufgebraucht. Danach kam der Hunger und die Kälte und die Krankheit – eine schwere Rippenfellentzündung. Im Krankenhaus erfuhr der junge Zeichner, dass man ihn ohne Geld nicht behandeln würde. Und was dann geschah, dazu gibt es mehrere Versionen. Auf jeden Fall war das Ergebnis ein Vertrag mit einem amerikanischen Verlag über ein Kinderbuch, der ihm 500 Dollar Vorschuss eintrug. Damit konnte Ungerer seine Behandlung finanzieren und erst einmal wieder Nahrungsmittel kaufen.
Das Buch, das daraus resultierte, hieß The Mellops Go Flying – auf Deutsch: Mr. Mellops baut ein Flugzeug – und war völlig anders als alles, was man Kindern in den späten 1950er Jahren zu lesen gab. Helden waren weder kleine Buben noch fluffige Kätzchen. Stattdessen erlebte eine Schweinefamilie aufregende Abenteuer. Diese Geschichte machte Furore. Sie erhielt einen Preis und Tomi Ungerer weitere Aufträge.
Danke seiner überschäumenden Phantasie und seines unermüdlichen Fleißes verdiente Tomi Ungerer bald mehr Geld als er ausgeben konnte. Automatisch verschaffte ihm das Zugang zu den Partys der besseren New Yorker Gesellschaft. Er war dabei, wenn sich die Kunstszene in Manhattan traf; er beobachtete die gelangweilten Gattinnen reicher Magnaten, konstatierte all die Schönheitsoperationen, die sie für notwendig hielten, um sich die ach so begehrte Jugend zu erhalten. Ungerer durchschaute das falsche Lächeln und die heuchlerischen Schmeicheleien, die alle untereinander beim Small Talk austauschten. Immer mehr machte ihm diese Scheinwelt und die Doppelmoral der amerikanischen Machtpolitik zu schaffen.
Das FBI, das ihn wegen seiner öffentlichen Kritik am Vietnam-Krieg ins Visier nahm, war nur eine weitere Autorität, die ihn am freien Denken zu hindern versuchte. Seine erotischen Zeichnungen stießen nun genauso auf Kritik wie die Realitätsnähe seines Kinderbuchs No kiss for Mother – Kein Kuss für Mutter. In dieser liebevoll illustrierten Erzählung verbietet der kleine Kater Toby Tatze seiner Mutter, ihn öffentlich zu knuddeln. Dieses kindgerechte Plädoyer für das Recht jedes Menschen auf den eigenen Körper und eigene Entscheidungen wurde nach seinem Erscheinen im Jahr 1973 zum schlechtesten Kinderbuch des Jahres gewählt. Es passte nicht dazu, wie man sich in Amerika die ideale Familie vorstellte.
Seine Weigerung, dem Mainstream in Büchern und Karikaturen Rechnung zu tragen, kostete Tomi Ungerer einen Auftrag nach dem anderen. Und da blieben ihm eigentlich nur zwei Möglichkeiten: sich anzupassen oder einen Lebensstil zu wählen, der es ihm ermöglichte, ohne Kompromisse weiterzumachen.
Kanada oder Wie man ein Schwein schlachtet
Tomi Ungerer entschied sich für die zweite Option. Deshalb ließ er sich 1971 im kanadischen Neuschottland nieder. Es war ein komplettes Kontrastprogramm. Statt Glitzerchic und Supermarkt baute er mit seiner Frau eigenhändig Gemüse an und fütterte die Schweine. Es war ein hartes Leben und stellte die Aussteiger vor ungeahnte Probleme. Wie zum Beispiel schlachtet man ein Schwein? Der Metzger wusste es nicht. Er bezog seine Steaks aus der Fabrik.
Und damit blieb Tomi Ungerer nichts anderes übrig, als selbst das Schlachten zu lernen. Gerne tat er es nicht. Aber er tat es, denn – wie er selbst später in einem Interview erzählte – er hielt noch nie viel von aufgesetzter Feinfühligkeit: „Wir essen Fleisch, Tiere werden gewöhnlich von Stellvertretern getötet und dann von Scheinheiligen gegessen, die beim Anblick von Blut in Ohnmacht fallen. Jeder, der Fleisch isst, ist ein Mitläufer beim Morden und wenn es etwas gibt, was ich nicht sein möchte, ist es ein Mitläufer.“
Tomi, Keel und der Diogenes Verlag
Während dieser Jahre in der kanadischen Einsamkeit entwickelte sich das ganz spezielle Verhältnis zwischen Tomi Ungerer und dem Diogenes-Verlag. In den 1970er Jahren wurde er zum Kultautor. Die 68er Revolution ebnete die Bahn für seinen subversiven Humor.
Daniel Keel und Tomi Ungerer kannten sich bereits seit dem Jahr 1957, in dem mit Der schönste Tag sein erstes Buch im Diogenes Verlag erschien. Auf seiner kanadischen Farm erinnerte sich Tomi Ungerer nun wieder seiner Heimat und schrieb in seiner – nein, nicht in der Muttersprache, aber immerhin in der Sprache, die er als Kind gelernt hatte. Daniel Keel wurde sein kongenialer Verleger, der seine Ideen unterstützte, ohne sie zu zensieren: „Als ich 1970 die USA verließ, habe ich mich vollständig und exklusiv dem Verlag anvertraut. Für mich ist Diogenes ein Heimathafen geworden, ein Zentrum für kulturellen Austausch, ein Raum kreativer Zusammenarbeit.“
Mit Schützenhilfe von Daniel Keel wurde das 1961 in New York erschienene Kinderbuch The Three Robbers – Die drei Räuber – zu einem internationalen Erfolg, der bis heute in 21 Sprachen übersetzt, über eine halbe Million mal verkauft und zweimal verfilmt wurde. Das 1975 erschienene Liederbuch stellte diesen Erfolg noch in den Schatten: Es verkaufte sich auf dem deutschsprachigen Markt mehr als eine Million mal.
Und das sind nur zwei von den insgesamt 80 Büchern, die aus der Zusammenarbeit von Diogenes und Tomi Ungerer resultierten. Ideen hätte Ungerer noch für viel mehr gehabt. Bei seinen häufigen Besuchen in Zürich und Keels in Kanada wurden unzählige Projekte entwickelt. Daniel Keels Aufgabe war es, zu priorisieren und Ungerer immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. So entstanden die berühmt-berüchtigten 5-Jahres-Pläne, an die sich letztendlich doch keiner hielt.
Wozu auch? Die 62 Jahre dauernde Zusammenarbeit zwischen Verlag und Autor sprechen genauso für sich wie die weltweit insgesamt 17 Millionen verkauften Bücher. Und noch immer vertreibt der Diogenes Verlag Ungerers Bücher, nun im Auftrag von The Tomi Ungerer Estate Ltd.
Rückkehr nach Europa
Sein Erfolg als Autor und Illustrator eigener Bücher machte Tomi Ungerer finanziell unabhängig. Nun konnte er es sich leisten zu leben, wo er wollte. Bis zu seinem Tod pendelte er zwischen seinem irischen Bauernhof und dem Elsass.
Tomi Ungerer starb in der Nacht vom 8. auf den 9. Februar 2019 im Alter von 87 Jahren. An seiner Trauerfeier im Straßburger Münster nahmen mehr als tausend Menschen teil. Seine Kindergeschichten von couragierten Außenseitern, die doch noch Freunde finden, haben unzähligen Kindern Mut gemacht.
Ach ja, und für seinen Einsatz für die deutsch-französische Freundschaft wurde Tomi Ungerer mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet.