Georges Simenon
(1903-1989)
Zwischen Kunst und Kommerz: Der „roman semi-littéraire“
Georges Simenon gehört zu den produktivsten Autoren der Weltliteratur. Er schrieb neben 75 Kriminalromanen über den Kommissar Maigret rund 100 weitere Romane und 150 Erzählungen. Berühmt ist noch heute die Geschwindigkeit, mit der seine Romane entstanden. Der Grund dafür: Georges Simenon wollte mit seiner Arbeit Geld verdienen. Er ist noch heute für seine Knebelverträge berühmt. Mit ihnen trotzte er den Verlagen den Löwenanteil der Einnahmen ab. Zwischen 1977 und 2017 gab der Diogenes-Verlag eine Gesamtausgabe des Werks von Simenon heraus. Viele Bände davon sind im MoneyMuseum zu sehen.Es gibt wohl wenig Autoren, die von einer vergleichbaren Produktivität sind wie der Belgier Georges Simenon. Wie er seine Romane verfasste, hat er in vielen Interviews geschildert.
Artikeltext:
14 Tage für einen Roman
Am Anfang seines kreativen Prozesses stand nicht der Plot, also die Handlung eines Buches, sondern ein Mensch mit seinem gesellschaftlichen Umfeld. Er konstruierte um einen Protagonisten herum ein Leben mit den wichtigsten Fakten und Bezugspersonen. Simenon fasst diese Stufe folgendermaßen zusammen: „Gesetzt sei dieser Mensch, der Ort, an dem er sich befindet, wo er wohnt, das Klima, in dem er lebt, sein Beruf, seine Familie etc. – was kann ihm widerfahren, das ihn zwingt, bis ans Ende seiner selbst zu gehen?“ Nach einer Phase der Recherche, in der sich Simenon über ihm fremde Details der Lebensumstände seiner Romangestalt informierte, folgte das Schreiben selbst. Es fand – mit seinen Worten – in einem „Zustand der Gnade“ statt, der nie länger als zwei Wochen dauerte. Jeden Tag tippte Simenon von halb sieben bis neun Uhr morgens ein Kapitel. Nach spätestens 14 Tagen war der Roman fertig, verfasst, ohne vorher Handlung oder Schluss festgelegt zu haben. Die drei Tage Korrekturphase, die er sich selbst zugestand, nutzte Simenon – seinen eigenen Aussagen nach – nie, um am Text zu feilen, sondern ausschließlich zur Beseitigung von Rechtschreibfehler. Ein anschließendes Lektorat? Simenon verbot sich das. Seine Bücher kamen unbearbeitet auf den Markt, genauso wie er sie verfasst hatte.
Das Werk
So entstanden 193 Romane und 167 Erzählungen. Geteilt wird sein Werk heute in Maigrets und Non-Maigrets. Zusätzlich verfasste Simenon Reportagen, Essays, Drehbücher und Hörspiele, galante Geschichten, Autobiographien (ja, mehrere) und Groschenromane. Um seine Produktivität zu kaschieren, benutzte Simenon zeitweise mehr als 30 Pseudonyme. Gemäß einer von der UNESCO beauftragten Statistik von 1989 hält Simenon Platz 18 auf der Liste der am meisten übersetzten Autoren der Welt mit 60 Sprachen.
Trivial oder Literarisch?
193 Romane? Nur 14 Tage für ein einzelnes Buch? Das widerspricht allen Regeln des literarischen Schaffens. Gerade das Ringen um die Sprache, das Suchen nach dem einen, ganz exakt zutreffenden Ausdruck, die Beschränkung auf das Wesentliche, das Kürzen und Ändern und Umschreiben eines Textes, das verbindet der Laie mit hoher Literatur. Denken wir nur an Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Noch berühmter als die in Tee getauchte Madeleine sind seine endlos durch angeklebten Seiten verlängerten Druckfahnen, auf denen er zusätzliche Korrekturen und Textvorschläge anbrachte. Solches Schaffen nötigt dem Leser Respekt ab. Er sieht sofort: Hier hat jemand hart gearbeitet. Aber wie steht es um einen Roman, der nach den Worten des Autors in einer 40-Stunden-Woche geschrieben wurde? Kann so ein wahres Meisterwerk entstehen?
Vergessen wir diese Frage. Schließlich lässt sich trefflich darüber streiten, welches Werk der hohen Literatur zugeordnet werden muss und welches nicht. Immerhin lobten berühmte Literaten wie Ernest Hemingway, Kurt Tucholsky, Gabriel Garcia Márques oder William Faulkner Maigret überschwänglich. Die Kritik tat sich dagegen etwas schwerer.
Alle aber mussten zugeben, dass es Simenon in einzigartiger Weise gelang, die Stimmung eines Moments einzufangen. Mit wenigen Worten konnte er seine Protagonisten exakt charakterisieren. Seine Romane sind aneinandergereihte Miniaturen, in denen Menschen interagieren. Innerhalb der Szenen stimmt noch das kleinste Detail, ein Geruch, eine Geste, ein Klang. Wer dagegen logische Stringenz und fesselnde Handlungen sucht, wird enttäuscht. Hin und wieder passiert es Simenon sogar, dass er sich selbst widerspricht. Kein Wunder bei einem Mann, der freimütig zugab, dass er keinen einzigen seiner Romane nach der Phase der Rechtschreibkorrektur noch einmal gelesen habe.
Quelle des Reichtums
Auch wenn die Frage nach dem literarischen Wert des Werks Simenons bis heute nicht beantwortet ist, liebte und liebt das Publikum seine Bücher. Hinsichtlich der Verkaufszahlen gehört Simenon zu den ganz Großen. Seit 1931, also seit dem Jahr, in dem der erste Maigret erschien, galt sein Name als Garantie für einen Bestseller. Insgesamt sollen bis heute über 500 Millionen Simenons verkauft worden sein.
Der Diogenes-Verlag landete also einen echten Coup, als er sich die Rechte am Gesamtwerk Simenons sicherte. Federico Fellini höchstpersönlich machte Verleger Daniel Keel auf den Erfolgsautor aufmerksam. Die darauf folgenden Verhandlungen dürften nicht einfach gewesen sein, denn Georges Simenon war dafür bekannt, dass er seine eigenen Regeln durchdrückte. Sie sicherten ihm den finanziellen Erfolg jedes Buchs, und zwar unabhängig von den Verkaufszahlen. Ein Verleger nannte dieses System die „Lex Simenon“. Sie zwang ihn, eine hohe Startauflage zu produzieren und ein garantiertes Honorar zu zahlen. Das konnte gelegentlich durchaus den Gewinn übersteigen. So legte der Diogenes Verlag zum Beispiel bei den „Intimen Memoiren“ kräftig drauf. Trotzdem rissen sich die Verleger um Georges Simenon. Die Beliebtheit seiner Maigrets machte alle anderen Verluste mehr als wett.
Simenon war für den Diogenes Verlag also eine so genannte Cash Cow, ein wunderbar sicheres Geschäft. Und als 1994 die Gesamtedition der 218 Bände mit Texten von Simenon abgeschlossen war, erfolgte bereits 1997 eine Neuausgabe mit überarbeiteten Übersetzungen.
Simenon begründete seine harte Haltung gegenüber Verlegern übrigens gerne, indem er auf Gerechtigkeit pochte. So schrieb er: „Ich war der Ansicht, dass die bestehenden Normen eher den Verlag als die Autoren begünstigten und dass ich in einem gewissen Sinne im Namen letzterer kämpfte.“
Simenon und das Geld
War das wirklich der einzige Grund, warum Simenon auch als schwerreicher Mann noch so hart und so geschickt verhandelte? Nein, wahrscheinlich nicht. Wir könnten eher an eine frühkindliche Prägung denken, an eine Phase, in der er gelernt hatte, was Geld bedeutet und dass Armut ständig droht. Wir können davon ausgehen, dass es seine Mutter war, die ihm dieses Gefühl vermittelte.
Gehen wir also zurück ins Jahr 1903, als Georges Simenon in Lüttich geboren wurde. Sein Vater war Buchhalter und gehörte damit zu den vielen kleinen Bürgern, die mit harter Arbeit den bescheidenen Wohlstand ihrer Familie sicherten. Seine Mutter dagegen stammte aus prekären Verhältnissen. Ihr Vater war früh gestorben, hatte seine Familie unversorgt zurückgelassen. Simenons Mutter wusste, was Hunger ist. Sie sollte nie jenes Vertrauen in das Leben entwickeln, das einem Menschen Sicherheit gibt. In seiner literarischen Abrechnung „Brief an meine Mutter“ schildert Simenon eindrücklich, wie sie ihn am Höhepunkt seines Erfolgs in seiner vornehmen Villa besucht. Die Mutter bleibt misstrauisch und will von seinen Angestellten immer wieder wissen, ob denn das alles auch bezahlt sei.
Wir müssen uns nicht mit dem Leben Simenons beschäftigen. Das ist an anderer Stelle ausführlich nachzulesen. Sein Umgang mit Frauen ist für uns heute auf keinen Fall mehr akzeptabel. Begnügen wir uns lieber damit zu sagen, dass Simenon sein Geld dafür einsetzte, das Leben in Fülle zu genießen. Er verkehrte in den Palais der Adligen genauso wie in den Cafés der Literaten und auf den Partys der Stars. Er kannte die Bordelle von Paris, New York und der tiefsten Provinz. Er war in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen und fand leicht Zugang zu den Handwerkern und kleinen Angestellten, die dort lebten, wo er gerade sein Quartier aufgeschlagen hatte.
Simenon führte ein exzessives gesellschaftliches Leben. Viele Szenerien, die er so brillant in seinen Büchern beschreibt, kannte er aus eigener Ansicht. Er sezierte die Menschen seiner Umgebung gnadenlos, um sie bei Gelegenheit in seinen Romanen zu verwenden. Er beutete ihre Ängste, Nöte und Sorgen aus, um aus ihnen realistische, oft bedrückende Geschichten zu weben.
Das tat Simenon seit seinem 16. Lebensjahr, erst als Reporter, dann als Autor von erotischen Erzählungen und Groschenromanen. Ob Liebe, Abenteuer oder Verbrechen: Maigret schrieb über alles, was ihm Geld brachte. Dank seines hohen Arbeitstempos verdiente er schon zu Beginn seiner Karriere nicht schlecht. Allerdings gab er das verdiente Geld oft genauso schnell aus wie er es verdiente.
Das änderte sich, als er 1931 seine ersten beiden Maigrets veröffentlichte. Sie machten ihn schlagartig berühmt und schenkten ihm die Zeit, darüber nachzudenken, was er wirklich mit seinem Leben machen wollte. Wenige Jahre später sagte er von sich: „Ich habe 349 Romane geschrieben, aber alles das zählt nicht. Die Arbeit, die mir wirklich am Herzen liegt, habe ich noch nicht begonnen […] Wenn ich vierzig bin, werde ich meinen ersten wirklichen Roman veröffentlichen, und wenn ich fünfundvierzig bin, werde ich den Nobelpreis erhalten haben.“
Für den Nobelpreis sollte es nie reichen. Dafür hatte Simenon das Geld viel zu lieb.
Das Modell des „roman semi-littéraire“ als sichere Einnahmequelle
Denn eines war ihm genauso klar, wie es heute jedem Verleger ist: Mit Literatur verdient man kein Geld. Mit populären Romanen dagegen sehr wohl. So entwickelte Simenon die Idee, dass er seine „romans semi-littéraire“ wie die Maigrets schreiben müsse, um seine wahren literarischen Werke zu finanzieren. Mit anderen Worten: Für ihn waren die „romans semi-littéraires“ eigentlich „alimentaires“, also Romane, die ihn ernährten. Und passend zu dieser Unterscheidung schuf Simenon den adäquaten Mythos: Während Schundromane sehr einfach zu schreiben seien, würden ihm die „reinen“ Romane alles abverlangen. Jedes literarische Werk bringe ihn an den Rand der Erschöpfung und des Nervenzusammenbruchs. Deshalb habe er mit den Maigrets eine Zwischenform geschaffen: Detektivgeschichten auf hohem Niveau, deren festgelegter Handlungsablauf trotzdem die Möglichkeit bietet, geniale Milieuschilderungen einzuflechten.
Geld interessiert mich nicht! Tut es das wirklich nicht?
Georges Simenon verfasste mehrere autobiographische Werke, in denen er ausführlich auf sein Verhältnis zum Geld eingeht. So berichtet er, warum er lieber auf seine unversiegbare Schaffenskraft vertraute als auf sinnvolle Anlagestrategien: Es soll im Winter 1936/7 gewesen sein, als er mit dem Zug nach Innsbruck reiste, um dort Ski zu fahren. Sein Schlafwagenabteil teilte er mit Albert Oustrick, einem damals berüchtigten Bankier, der wegen Betrugs einige Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Der riet Simenon, in afrikanische Bergbauaktien zu investieren. Simenon folgte seinem Rat und zahlte sein Lehrgeld. Die Aktien fielen binnen weniger Wochen von 150 Francs auf 10 Centimes. Simenon schreibt über diese Erfahrung: „Das war mein erster Kontakt mit der Finanzwelt. Es blieb mein einziger. Geld interessiert mich nicht. Sicher, ich mag den Komfort, ich mag einige Annehmlichkeiten, die durch Geld erst möglich werden. Aber ich lehne es ab, damit zu spielen. […] Ich möchte von meinen Romanen leben, einzig von meinen Romanen, nur mit ihnen bin ich erfolgreich. Der Rest ist mir gleich.“
Simenons Skepsis bezog sich also ausschließlich auf Geld, das durch die Mechanismen des Kapitalismus mit Hilfe von Kapital erwirtschaftet wurde. Durch Arbeit verdientes Geld war ihm dagegen heilig. So kannte er keine Skrupel, um berechtigte Honoraransprüche durchzusetzen. Einen zwielichtigen Verleger will er in Panama City mit vorgehaltener Waffe gezwungen haben, die ihm für Raubdrucke schuldigen Tantiemen auszuzahlen.
Natürlich wurde Simenons Geschäftstüchtigkeit von seinen Zeitgenossen wahrgenommen und oft sehr kritisch kommentiert. Aus dem Jahr 1954 existiert zum Beispiel eine Karikatur, die Literaten verschiedene Regierungsämter zuordnet. Dabei wird Jules Romain, Verfasser von sozialistisch angehauchten Romanen, zum Arbeitsminister; der sich mit menschlichen Fehltritten beschäftigende François Mauriac übernimmt das Amt des Justizministers; Albert Camus macht die Karikatur wegen seiner Geburt in Nordafrika zum Minister für moslemische Angelegenheiten und Georges Simenon – dargestellt mit Taschen voller Geld – zum Finanzminister.
Georges Simenon heute
Georges Simenon starb in der Nacht vom 3. auf den 4. September 1989 im Hotel Beau-Rivage in Lausanne. Noch heute werden seine Romane gelesen und verfilmt. Unzählige Hörspiele und Hörbücher existieren von seinen Werken. 2017 ermöglichte die Übernahme der Verlagsrechte an Georges Simenons Werk dem Verleger Daniel Kampa die Gründung des Zürcher Kampa Verlags. Seitdem legt dieser Verlag die Bücher von Georges Simenon immer wieder neu auf. Ist es da wirklich so wichtig, ob diese Bücher hohe Literatur sind oder nicht? Wichtig ist doch, dass sie immer neuen Generationen von Lesern einen unterhaltsamen Zeitvertreib bieten.