Recht und Gerechtigkeit

Was ist Gerechtigkeit eigentlich? Warum stimmt sie häufig nicht mit dem Recht überein? Und bedeutet Gerechtigkeit für alle Menschen das Gleiche? Hat sich in den vergangenen Jahrhunderten verändert, was wir für gerecht halten? Oder ist Gerechtigkeit ein absoluter Wert, unabhängig von Zeit und Ort? Um diese Fragen von unterschiedlichen Standpunkten aus zu beleuchten, haben wir aus der Bibliothek des MoneyMuseums einige Bücher herausgesucht. Machen Sie sich mit uns auf den Weg, um zu beobachten, wie sich unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit entwickelten.

Zu den Stationen
Recht und Gerechtigkeit

von

Daniel Baumbach, Ursula Kampmann und Teresa Teklić

Die Boulevardpresse liebt dieses Thema: Urteile, die jedem gesunden Menschenverstand widersprechen. Sie kann sich darauf verlassen, dass es dann empörte Leserbriefe hagelt. Jeder Leser regt sich darüber auf, wenn Gerechtigkeit nicht mit kodifiziertem Recht übereinstimmt.

Und das geschieht leider ziemlich häufig. Denn wie lautet ein weit verbreitetes Bonmot? Auf hoher See und vor Gericht bist Du in der Hand Gottes, was uns zur eigentlichen Frage dieser Ausstellung bringt: Was ist Gerechtigkeit eigentlich? Warum stimmt sie häufig nicht mit dem Recht überein? Und bedeutet Gerechtigkeit für alle Menschen das Gleiche? Hat sich in den vergangenen Jahrhunderten verändert, was wir für gerecht halten? Oder ist Gerechtigkeit ein absoluter Wert, unabhängig von Zeit und Ort?

Um diese Fragen von unterschiedlichen Standpunkten aus zu beleuchten, haben wir aus der Bibliothek des MoneyMuseums einige Bücher herausgesucht, in denen entweder Recht oder Gerechtigkeit, im besten Falle beides eine Rolle spielt. Machen Sie sich mit uns auf den Weg, um zu beobachten, wie sich unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit entwickelten.

Station 1 – Kein gleiches Recht für alle

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“, heißt es sowohl in Artikel 10 der Bundesverfassung als auch im Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes. Diese Gleichstellung prägt unser Denken, doch wenn wir in die Geschichte abtauchen, stellen wir fest, dass solche Vorstellungen sehr modern sind. In der Vergangenheit besaßen alle Menschen einen unterschiedlichen Rechtstatus und wurden vom Gesetz dementsprechend behandelt – je nach Stand, Herkunft, Nationalität, Geschlecht…

Schon im Neuen Testament finden sich einige Beispiele dafür. Darauf gehen wir beim ersten Halt in dieser Station ein. Danach stellen wir Ihnen einen der bedeutendsten juristischen Texte des Mittelalters vor. Und Sie werden sehen, damals war es geradezu unvorstellbar, ein gleiches Recht für alle zu haben.

1.1 - Unrecht im Neuen Testament oder: Der unantastbare Paulus

Die Römer kannten eine Todesstrafe mit der Bezeichnung „Damnatio ad bestias“, die als besonders entehrend galt. Gemälde des polnischen Künstlers Henryk Siemiradski.

Wenn wir mittelalterliche Legenden als Maßstab nehmen, brachten die Römer alle Christen auf brutalste Weise um: Sie wurden in der Arena von wilden Löwen gefressen, gekreuzigt, gesteinigt und anders mehr. Tatsächlich stand hinter diesen Formen der Hinrichtung ein ausgeklügeltes Rechtssystem, an das sich die römischen Richter hielten. Dass dieses Rechtssystem funktionierte, zeigt uns der Fall des Paulus von Tarsos.

Der Apostel Paulus gehört zu den historisch gesicherten Persönlichkeiten des Neuen Testaments. Auf seinen Missionsreisen, die sowohl in der Apostelgeschichte als auch in seinen Briefen überliefert sind, wurde er mehr als einmal gefangengesetzt. Zu einer Verurteilung kam es fast nie. Denn Paulus verfügte im Unterschied zu seinen Glaubensbrüdern über das wohl größte Privileg, das man zu seiner Zeit haben konnte: Das Römische Bürgerrecht.

Paulus beruft sich auf sein Bürgerrecht. Moderne Illustration.

Das Römische Bürgerrecht war ein Privileg. Nicht alle Bürger des Reichs besaßen es, ja nicht einmal alle Bewohner der Stadt Rom. Nur Bürgern – Bürgerinnen gab es nicht – war es erlaubt, zu wählen und sich wählen zu lassen. Deshalb war das Bürgerrecht ein großzügiges Geschenk, das römische Politiker gelegentlich verliehen. So dehnte sich der Personenkreis der römischen Bürger immer weiter aus.

Das römische Bürgerrecht hatte auch strafrechtliche Konsequenzen: Es beinhaltete das Recht auf einen ordentlichen Prozess. Ein römischer Bürger durfte nicht gefoltert werden und konnte jederzeit an die höchste Instanz appellieren, an den Kaiser. Dazu gewährte es Immunität gegenüber lokalen Gesetzen. Ein römischer Bürger konnte sich im gesamten römischen Reich auf sein Bürgerrecht berufen.

Was das römische Bürgerrecht für Paulus bedeutete, illustrieren mehrere Textstellen:

Philippi / Makedonien; Apostelgeschichte 16,35ff.

„Als es Tag wurde, schickten die obersten Beamten die Amtsdiener und ließen sagen: Lass jene Männer frei! Der Gefängniswärter überbrachte Paulus die Nachricht: Die obersten Beamten haben hergeschickt und befohlen, euch freizulassen. Geht also, zieht in Frieden! Paulus aber sagte zu ihnen: Sie haben uns ohne Urteil öffentlich auspeitschen lassen, obgleich wir römische Bürger sind, und haben uns ins Gefängnis geworfen. Und jetzt möchten sie uns heimlich fortschicken? Nein! Sie sollen selbst kommen und uns hinausführen. Die Amtsdiener meldeten es den obersten Beamten. Diese erschraken, als sie hörten, es seien römische Bürger. Und sie kamen, um sie zu beschwichtigen, führten sie hinaus und baten sie, die Stadt zu verlassen“

Jerusalem; Apostelgeschichte 22,25ff.

„Als sie ihn aber für die Geißelung festbanden, sagte Paulus zu dem Hauptmann, der dabeistand: Dürft ihr jemand, der das römische Bürgerrecht besitzt, geißeln, noch dazu ohne Verurteilung? Als der Hauptmann das hörte, ging er zum Obersten, meldete es und sagte: Was hast du vor? Der Mann ist Römer. Der Oberst kam zu Paulus und fragte ihn: Sag mir, bist du wirklich Römer? Er antwortete: Ja. Da antwortete der Oberst: Ich habe für dieses Bürgerrecht ein Vermögen gezahlt. Paulus sagte: Ich aber bin als Römer geboren. Sofort ließen die, welche ihn verhören sollten, von ihm ab. Und der Oberst ängstigte sich, weil er bedachte, dass es ein Römer war, und er ihn hatte fesseln lassen.“

Caesarea, Apostelgeschichte 25,10ff.

„Paulus sagte: Ich stehe vor dem Richterstuhl des Kaisers und da muss ich gerichtet werden. Den Juden habe ich kein Unrecht getan, wie auch du sehr wohl weißt. Wenn ich wirklich schuldig bin und etwas getan habe, was des Todes würdig wäre, weigere ich mich nicht zu sterben. Wenn aber ihre Anklage gegen mich unbegründet ist, kann mich niemand ihnen ausliefern. Ich lege Berufung beim Kaiser ein! Da besprach sich Festus mit seinen Ratgebern und antwortete: An den Kaiser hast du appelliert; zum Kaiser sollst du gehen.“

Mittelalterliche Miniatur mit Darstellung der Hinrichtung des Paulus.

Quellen des 2. Jahrhunderts n. Chr. sprechen davon, dass Paulus letztendlich doch hingerichtet wurde, und zwar mit dem Schwert. Das galt damals als eine ehrenvolle Todesart und ist als Privileg des römischen Bürgers zu verstehen. Es mag für uns nicht danach klingen, aber wenn alternativ der Tod durch Steinigung, Kreuzigung oder Löwen im Raum stehen...

Offizielles Foto von der Rede des US-Präsidenten Kennedy vor dem Schöneberger Rathaus.

Wie lange das römische Bürgerrecht als Privileg nachhallte, illustriert ein Ausschnitt aus Präsident Kennedys berühmter Berlinrede von 1963: „Vor zweitausend Jahren war der stolzeste Satz ‚Ich bin ein Bürger Roms‘. Heute, in der Welt der Freiheit, ist der stolzeste Satz ‚Ich bin ein Berliner‘. Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger Berlins, und deshalb bin ich als freier Mensch stolz darauf, sagen zu können ‚Ich bin ein Berliner‘!“

1.2 Jeder Mensch hat seinen Stand

Mittelalterliche Darstellung der drei Stände.

Immer wieder sieht man in Geschichtsbüchern die mittelalterliche Ständepyramide: Oben Papst und Kaiser, dann der Adel und irgendwo unten der Rest der Bevölkerung. Ganz so einfach war es nicht, aber im Kern stimmt die Aussage: Die mittelalterliche Gesellschaft war hierarchisch aufgebaut. Jeder hatte seinen festen Platz innerhalb einer gottgegeben Ordnung. Um so weiter unten ein Mensch stand, desto weniger Rechte besaß er.

Selbstverständlich gab es eine Rechtsprechung basierend auf Gewohnheitsrechten. Solche Gewohnheitsrechte stellte der Sachsenspiegel, den wir hier im Faksimile zeigen, zusammen. Er gilt als die wichtigste Kodifizierung mittelalterlichen Rechts und verschriftlicht das Gewohnheitsrecht der Sachsen. Der Jurist Eike von Repgow ist sein Verfasser. Er behandelt darin so unterschiedliche Themen wie Lehnsrecht und Königswahl, Erbangelegenheiten, Familien-, Straf- und Verfahrensrecht.

Der Sachsenspiegel war ein wichtiger Grundsatztext. Deshalb ist er in zahlreichen Handschriften erhalten. Unser Beispiel wird als „Heidelberger Sachsenspiegel“ bezeichnet, weil er in Heidelberg aufbewahrt wird. Wie die meisten Kopien ist er üppig illustriert; schließlich konnten zu der Zeit, als dieses Recht Anwendung fand, die wenigsten Fürsten lesen.

Wir mögen heute entsetzt sein über die darin festgelegten Rechtsvorschriften, in denen das Recht an die Standeszugehörigkeit gekoppelt ist. Nichtsdestotrotz war der Sachsenspiegel ein Fortschritt. Mit ihm wurde Recht verschriftlicht, dabei vereinheitlicht und für einen größeren Kreis zugänglich gemacht. Kaum ein anderer Gesetzestext fand so große Verbreitung. Deshalb werden einzelne Bestimmungen heute noch beachtet.

Das untere Register links ist ein gutes Beispiel dafür, dass Angehörige der verschiedenen Stände vom sächsischen Gewohnheitsrecht ungleich behandelt wurden. Ein Adliger, erkennbar an dem Schild, hindert den Nicht-Adligen am Schwören, indem er seine Schwurhand ergreift. Dies illustriert folgende Rechtsvorschrift: „Wenn zwei Männer, von denen einer nicht in die Heerschildordnung hineingeboren ist, ein Gut gleichermaßen beanspruchen und Zeugnis dazu anbieten, dann soll dessen Zeugnis den Vorzug haben, der ritterbürtig ist, und das von jenem [anderen] sei verworfen.“

Diese Illustration beschäftigt sich mit dem Lehnseid. Dabei legt der Lehnsherr seine Hände über die gefalteten Hände seines knienden Vasallen. Gerne wurde bei dieser Gelegenheit auch ein Symbol des Lehens übergeben. So erhält der Priester im unteren Register der Darstellung einen riesigen Schlüssel. Übrigens spielen auf dieser Darstellung auch die Frauen eine Rolle, und zwar gleich viermal: Zweimal als Gattin eines Lehensherren, einmal als Gattin eines Lehnsnehmers und einmal ganz alleine als Lehnsherrin.

Einige bis heute geläufigen Redewendungen lassen sich auf den Sachsenspiegel zurückführen. Zum Beispiel: Der Lehnsherr gab für seine Leibeigenen vor, welche Mühle sie – natürlich gegen eine Gebühr – benutzen mussten. Und da nach der Ernte alle gleichzeitig ihr Korn gemahlen haben wollten, musste geregelt werden, wen der Müller zuerst bedienen sollte. Daher die Festlegung: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

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Sophokles. Œdipe Roi: Tragédie de Sophocle.
Herausgegeben von André Gonin 1946 in Lausanne, übersetzt von André Bonnard. Mit Illustrationen von Hans Erni.
Michael Kohlhaas: Erzählung (aus einer alten Chronik).
Heinrich von Kleist
Herausgegeben 1916 vom Hans von Weber Verlag in München. Mit Zeichnungen von Bruno Goldschmitt.

Station 2: Wer sorgt für Gerechtigkeit?

Bei der Frage nach Gerechtigkeit geht es nicht nur darum, wie das Gesetz den Menschen behandelt, sondern auch, wer diese Gesetze aufstellt und für ihre Einhaltung sorgt. Ein jähzorniger Gott, ein launischer Monarch oder ein vom Volk gewähltes Parlament?

Im Folgenden stellen wir zwei Geschichten vor, die in ihrer Entstehung mehr als zwei Jahrtausende auseinander liegen – König Ödipus aus dem 5. Jh. v. Chr. und Michael Kohlhaas von 1808. Sie zeigen beispielhaft, wie sehr sich das Verständnis von Gerechtigkeit von der Antike zur Moderne gewandelt hat: Von einer Welt, in der der Wille der Götter regiert, zu einer, in der der Mensch selbst autonom für die Einhaltung des Rechts eintritt. Dabei illustrieren sie die Gefahren zweier entgegengesetzter Systeme.

2.1 Götter statt Gerichte

Der blinde Ödipus befiehlt seine Kinder den Göttern an. Gemälde von Bénigne Gagneraux 1784. Nationalmuseum, Stockholm, Schweden.

Die Geschichte des Ödipus ist wirklich und wahrhaftig tragisch. Damit ist gemeint, dass eine Figur Leiden erfährt, egal wie sie selbst handelt, weil ihr Schicksal bereits besiegelt ist. Dieser Kampf des Einzelnen gegen ein übermächtiges Schicksal ist Gegenstand der griechischen Tragödie. Im Falle von Ödipus wird bereits vor seiner Geburt von den Göttern vorausgesagt, dass er seinen Vater ermorden und seine Mutter ehelichen wird. Alles, was seine Eltern und er selbst unternehmen, um dieses Schicksal abzuwenden, führt perfider Weise nur dazu, dass es sich tatsächlich so ereignet.

So setzen ihn seine Eltern, König Laios und Jokaste, als Kleinkind aus, damit er Vatermord und Inzest nie begehen kann. Doch sein Leben bei Adoptiveltern macht erst möglich, dass er später diese Unglückstaten vollbringt, ohne seine biologischen Eltern zu erkennen. Wie man es auch dreht und wendet, Ödipus kann nicht gewinnen. Als die schreckliche Wahrheit ans Licht kommt, nimmt sich Jokaste das Leben und Ödipus das Augenlicht.

Jokaste erinnert sich an die Weissagung. Illustration von Hans Erni.

Ödipus: schuldig oder unschuldig? Das ist eine spannende Frage. Faktisch macht er sich mehrerer Straftaten schuldig. Er erschlägt seinen Vater Laios während eines Handgemenges an einer Wegkreuzung und begeht damit Vatermord. Später löst er das Rätsel der Sphinx vor der Stadt Theben und erhält zum Dank die Witwe Jokaste zur Frau. Indem er sie ehelicht und mit ihr mehrere Kinder zeugt, begeht er Inzest. In der Welt der alten Griechen zählte alleine die Tat. Ob Ödipus je die Absicht hatte, etwas Ungesetzliches zu tun, spielte keine Rolle.

Im heutigen Strafrecht ist das anders. Die Absicht ist von zentraler Bedeutung. Wenn Ödipus seinen Vater vorsätzlich getötet hätte, könnte man von Mord sprechen. Fehlt dieser Vorsatz, würde man den Zusammenstoß mit seinem Vater als Notwehr oder Totschlag interpretieren – das ist ein großer Unterschied. Das Gleiche gilt für die Ehe mit seiner Mutter: Weder Ödipus noch Jokaste wissen zum „Tatzeitpunkt“ um ihr Verwandtschaftsverhältnis. Sie begehen also keine vorsätzliche Straftat. Nach modernem Recht wären sie demnach wahrscheinlich unschuldig und würden in puncto Inzest freigesprochen.

Bittsteller bei Ödipus. Illustration von Hans Erni.

Auch unsere moderne Vorstellung, dass Strafe nicht übertragbar ist, wird im Ödipus auf die Probe gestellt. Zwei Dinge dürften uns seltsam vorkommen. Erstens, dass ein Mensch für ein Verbrechen bestraft wird, das ein anderer begangen hat. Zweitens, dass eine ganze Stadt für die Taten eines Einzelnen büßen muss.  

So wird Ödipus mit einem so grausamen Schicksal bestraft, um ein Verbrechen von Laios auszugleichen. Und nach dem unbeabsichtigten Vatermord des Ödipus werden zur Strafe die Thebaner von der Pest heimgesucht, die erst endet, als Ödipus die Tat in einem Akt der Selbstbestrafung sühnt.

Zertifikat mit Signaturen.

Der griechische Dramatiker Sophokles schrieb seine Version des Ödipus-Mythos im 5. Jh. v. Chr. Der Stoff erfreut sich bis heute großer Beliebtheit und wurde in unzähligen Auflagen herausgegeben. Bei dem hier ausgestellten Buch handelt es sich um eine französische Übersetzung der Tragödie, die 1946 in Lausanne in limitierter Auflage erschien. Die 230 Exemplare wurden vom Herausgeber André Gonin und vom Künstler Hans Erni original signiert und auf besonders wertvollem, aufwendig hergestelltem Papier gedruckt.

Ödipus findet die tote Jokaste. Illustration von Hans Erni.

Eine weitere Besonderheit dieser Kunstausgabe sind die 14 Illustrationen des vielfach ausgezeichneten Schweizer Künstlers Hans Erni. Mit wenigen Strichen gelingt es ihm, Schmerz und Tragik der Figuren einzufangen und die Geschichte auf dem Papier lebendig werden zu lassen – wie in der Szene, in der Ödipus seine erhängte Mutter tot vorfindet.

Sphinx. Illustration von Hans Erni.

Was hat am Morgen zwei, am Mittag drei und am Abend vier Beine? So oder so ähnlich haben Sie dieses Rätsel sicher schon einmal gehört. Aber wussten Sie auch, dass es aus der Ödipus-Sage stammt? Gestellt wird das Rätsel von der Sphinx, einem drachenähnlichen Ungeheuer, das vor den Toren der Stadt lagert und alle Menschen, die ihre Fragen nicht beantworten können, auffrisst. Einzig Ödipus ist in der Lage, das Rätsel der Sphinx richtig zu lösen. Die schämt sich daraufhin in Grund und Boden und stürzt sich in den Tod.

Gustave Moreau, Ödipus und die Sphinx, 1864.

Das kulturgeschichtlich vielleicht bekannteste Erbe des Ödipus-Stoffs ist der sogenannte Ödipuskomplex. Der von Sigmund Freud Anfang des 20. Jahrhunderts geprägte Terminus erfreute sich lange Zeit großer Beliebtheit.

Er bezeichnet die von Freud aufgestellte Theorie, dass männliche Kleinkinder in ihrer Entwicklung eine Phase durchlaufen, in der sie die eigene Mutter sexuell begehren und damit der Vater zum potenziellen Rivalen wird. Dieses Begehren ist gesellschaftlich nicht akzeptiert und wird deswegen vom Kind verdrängt. Es könnte aber, so die weitere Auslegung, unbewusst die Motivation für bestimmte Handlungen sein. In der Tragödie von Sophokles hieße das, dass Ödipus womöglich aus einem ihm unbewussten Drang Inzest mit seiner Mutter begehen wollte und deswegen seinen Vater aus dem Weg räumen musste.

2.2 Selbstjustiz: Der Mensch erhebt sich über das Gesetz

Heinrich von Kleist. Michael Kohlhaas: Erzählung (aus einer alten Chronik)
Wittenberg in Flammen. Illustration von Bruno Goldschmitt.

Wir machen einen Sprung ins 16. Jahrhundert. In dieser Zeit ereignet sich die wahre Geschichte des Hans Kohlhase, der sich um sein Recht betrogen sah und deswegen halb Sachsen in Schutt und Asche legte. Was war geschehen?

Dem Pferdehändler Kohlhase wurden an der Grenze von Brandenburg zu Sachsen unrechtmäßig Zölle und Pferde abgenommen. Deutschland war damals ein Flickenteppich kleiner Staaten mit unterschiedlichen Gesetzen. Nachdem Kohlhase vergeblich bei allen möglichen gerichtlichen Instanzen auf Schadensersatz geklagt hatte, nahm er die Sache selbst in die Hand. Er begann einen privaten Rachefeldzug gegen den Burgherrn, der ihn betrogen hatte. Dabei legte er weite Teile Sachsens in Schutt und Asche. Als sein Fall schließlich an höchster Stelle landete, bekam er endlich den Schadensersatz für seine Rappen – und wurde für seine Verbrechen zum Tode verurteilt.

Inspiriert von dieser Begebenheit schrieb der deutsche Schriftsteller Heinrich von Kleist 1808 seine Novelle Michael Kohlhaas.

Die Geschichte von Michael Kohlhaas wurde wegen der darin enthaltenen politischen Botschaft immer wieder herausgegeben. Wir stellen deshalb zwei verschiedene Ausgaben der Geschichte vor. Das erste Beispiel ist ein sogenannter Pressendruck aus dem Jahr 1916. Pressendrucke werden in geringer Stückzahl mit besonderen Eigenschaften für Sammler hergestellt. Das vorliegende Exemplar ist zum Beispiel illustriert, von Hand gedruckt, besitzt einen Einband aus Marmorpapier und echte Wasserzeichen. Von dieser Ausgabe gibt es nur 600 Exemplare.

Illustriert hat das Buch der deutsche Künstler Bruno Goldschmitt. Er stimmte seine Bilder genau auf die gerade erzählten Szenen ab und bettete sie auch graphisch in den Text ein. Hier sehen wir das Treffen zwischen Michael Kohlhaas und Martin Luther. Kohlhaas hofft, dass ihm Luther in seinem Gerechtigkeitsempfinden zustimmt. Er handelt gemäß dem Leitspruch „Fiat iustitia et pereat mundus“ (dt.: „Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!“). Luther aber hält dagegen und sagt, ein Unrecht könne niemals durch ein anderes Unrecht wieder gut gemacht werden. Man solle auf die private Rache verzichten und auf die Gerechtigkeit Gottes vertrauen.

Heinrich von Kleist. Michael Kohlhaas: Aus einer alten Chronik.

Herausgegeben vom Aufbau-Verlag im Jahr 1980, Berlin und Weimar (DDR). Mit Zeichnungen von Ernst Barlach.

Kohlezeichnung von Ernst Barlach.

Das zweite Beispiel wurde 1980 in der DDR publiziert und enthält Illustrationen vom deutschen Bildhauer, Grafiker und Dichter Ernst Barlach. Anders als bei Goldschmitt passen sie nicht immer zum Text. Das liegt an der spannenden Entstehungsgeschichte dieses Werks.

Schon 1910 bat man Barlach, eine neue Kohlhaas Ausgabe zu illustrieren. Er fertigte daraufhin über 50 Kohlezeichnungen in einem Skizzenbuch an, das Projekt wurde aber nie beendet. Das sieht man den Zeichnungen an. Sie sind oft unfertig, unvollkommen. Gerade das verleiht ihnen aber einen besonderen Charakter. Erst 1980 nahm man das Projekt wieder auf und publizierte die vorliegende Ausgabe.

Kohlezeichnung von Ernst Barlach.

Ob 1910 oder 1916, beide Ausgaben des Michael Kohlhaas wurzeln damit in derselben Periode, in der Blütezeit der kommunistischen Bewegung vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Kommunismus stellte damals für viele Intellektuelle eine attraktive Alternative zum als ungerecht empfundenen Kaiserreich dar. Die Geschichte vom einfachen Bürger, der geradezu gezwungen wird, zur Gewalt zu greifen, weil ihm weder Regierung noch Kirche helfen wollen, passte bestens in dieses Weltbild.

Kohlezeichnung von Ernst Barlach.

Kommen wir zum Schluss zurück auf unsere Ausgangsfrage. Wie steht es nun um Recht und Gerechtigkeit im Kohlhaas? Einerseits kann man sagen, dass der Pferdehändler sowohl gegen weltliches Recht verstieß als auch gegen das Gesetz Gottes (Vergebung statt Rache).

Andererseits gibt es aber auch eine Theorie, nach der man Kohlhaas durchaus Recht geben könnte, und zwar die des Gesellschaftsvertrags des englische Philosoph John Locke. Demnach schließen die Bürger eine Art stillschweigendes Abkommen mit dem Staat. Sie halten sich an die Gesetze und im Gegenzug sorgt der Staat für ihre Einhaltung. Sobald eine dieser Parteien gegen den Vertrag verstößt, wird er ungültig. Indem der Staat Kohlhaasens Eigentum nicht schützt, verletzt er seine staatliche Pflicht und befreit damit Kohlhaas ebenfalls von seinen Pflichten – sich an die Gesetze zu halten. Zumindest in der Theorie.

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4. Auflage, herausgegeben in Frankfurt / Leipzig, 1727
Verlegt 1696 bei Emanuel und Johann Georg König in Basel.

Station 3 - Weltliches und Kirchliches Recht

Haben Sie schon mal von der Bezeichnung „Doktor beider Rechte“ gehört? Gemeint ist ein Jurist, der sowohl im weltlichen als auch im kirchlichen Recht ausgebildet war. Denn im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wurden Kleriker und Nicht-Kleriker nach unterschiedlichen Gesetzen abgeurteilt. Dazu besaß jeder Inhaber der hohen und / oder niederen Gerichtsbarkeit grundsätzlich das Recht, auf seinem Gebiet eigene Gesetze zu erlassen.

Um das Durcheinander der verschiedenen Gesetzgebungen zu illustrieren, stellen wir Ihnen in dieser Station zwei Bücher vor, wie sie Juristen im beginnenden 18. Jahrhundert benutzten.

3.1 Weltliches Recht

Johann Christoph Frölich von Frölichsburg. Commentarius in Kayser Carl deß Fünfften und deß H. Röm. Reichs Peinliche Hals-Gerichts-Ordnung.

4. Auflage, herausgegeben in Frankfurt / Leipzig, 1727.

Titelseite der Carolina von 1532.

Das im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gültige Strafrecht war Jahrhunderte lang eine wilde Mischung aus regionalen Gewohnheitsrechten, Rechtstexten aus dem Mittelalter, persönlichen Vorlieben des Landesherren und dem überliefertem römischen Recht der Antike. Nicht nur politisch war das Reich zersplittert, auch wenn es um die Strafverfolgung ging, machte jeder Landesherr, was er für richtig hielt, bis Karl V. im Jahr 1532 erstmals ein einheitliches Strafgesetzbuch veröffentlichte, die Constitutio Criminalis Carolina, zu deutsch die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V.

Das Wort „peinlich“ wird im Titel nicht im neuhochdeutschen Sinn gebraucht, sondern in seiner ursprünglichen Bedeutung. Was „peinlich“ ist, bereitet „Pein“, und so deckt das Strafgesetzbuch all die Verbrechen ab, die zur hohen Gerichtsbarkeit bzw. Halsgerichtsbarkeit gehörten, also alle Verbrechen, die mit einer Körperstrafe geahndet wurden.

Auch wenn uns die darin enthaltenen Strafen wie das Rädern, das Sieden oder das Verstümmeln unmenschlich erscheinen, galt das Gesetzeswerk seinen Zeitgenossen als großer Fortschritt. Wer fortan wegen eines Schwerverbrechens vor ein Gericht gezogen wurde, wusste, nach welchen Regeln er bestraft wurde.

Dass die „Carolina“ auch zwei Jahrhunderte nach ihrem Erscheinen den Verlauf eines Strafprozesses bestimmte, illustriert der hier vorgestellte Kommentar. Er wurde 1709 von Johann Christoph Frölich von Frölichsburg veröffentlicht und immer wieder nachgedruckt. Unser Buch stammt aus der 4. Auflage von 1727. Frölich erläutert darin, wie die „Carolina“ zu verstehen und anzuwenden sei. Damit trug er zu einer weiteren Vereinheitlichung der Strafen bei, da viele Richter seinen Vorschlägen folgten.

Anders als heute gab es keine Staatsanwaltschaft. Ermittler, Ankläger und Richter fielen in einer Person zusammen. Da der Indizienbeweis vor Gericht nicht zugelassen war, musste jeder Angeklagte mittels Zeugen oder eines Geständnisses überführt werden. War der Angeklagte zu einem Geständnis nicht bereit, kam die Folter zur Anwendung.

Die „Carolina“ legte deshalb genau fest, wie ein Prozess am erfolgversprechendsten geführt werden solle. Sie gab Antworten darauf, wie lange man Verdächtige festhalten durfte und wie Zeugen zu verhören seien. Außerdem unterschied sie bereits zwischen Vorsatz und fahrlässigem Handeln und kannte mildernde Umstände.

Festgelegt wurde auch, wer nicht gefoltert werden durfte. Dazu gehörten Kinder unter 14 Jahre, geistig nicht Zurechnungsfähige, Taubstumme, Blinde und Alte. Widerrechtliches Foltern wurde selbst zu einem Strafbestand.

Bereits eine Generation vor der „Carolina“ schuf Kaiser Maximilian I. im Jahr 1495 das Reichskammergericht, um die private Fehde zurückzudrängen. Damit verfügte das Heilige Römische Reich über ein offizielles Gericht, vor dem Fürsten, Städte, Ritter, aber auch Bürger ihre Beschwerden vorbringen konnten. Auch wenn diese – wie Michael Kohlhase – dort nicht immer Gerechtigkeit fanden.

3.2 Kanonisches Recht

Corpus iuris canonici emendatum et notis illustratum.

Verlegt 1696 bei Emanuel und Johann Georg König in Basel.

Der Papst entscheidet über Rechtsfragen. Buchillustration.

Für Angehörigen des geistlichen Standes – Nonnen und Mönche, Bischöfe und Pfarrer – galt ein anderes Recht, das kanonische Recht. Es ordnete alle kirchlichen Lebensbereiche. Oberster Gesetzgeber war der Papst.

Grundlage des kanonischen Rechts waren die biblischen Schriften und die Lehren der Kirchenväter. Das war kompliziert, da sich diese häufig widersprachen. Aus einer Vielzahl an Aussagen galt es Regeln zu formen, also einen Kanon zu schaffen, deshalb die Bezeichnung „kanonisches Recht“.

Auch gewöhnliche Bürger kamen mit geistlichen Gerichten in Kontakt, und zwar immer, wenn es um Verbrechen ging, die in einen Bereich fielen, den die Kirche für sich reklamierte. Dazu zählte das Eherecht, aber auch Fragen der Rechtgläubigkeit. Wer hier sündigte, musste sich vor einem geistlichen Gericht verantworten, wurde für die Bestrafung aber der weltlichen Justiz übergeben.

Das kanonische Recht war in einem Buch, dem Corpus Iuris Canonici, zusammengefasst. Dabei handelt es sich eher um eine Aneinanderreihung von Texten als um einen Gesetzestext im modernen Sinn. Es versammelte wichtige kirchliche Gesetze, die meisten davon aus dem Mittelalter. Dazu kamen päpstliche Erlasse, die diese Gesetze modifizierten. Um 1580 war das Corpus Iuris Canonici mehr oder weniger abgeschlossen. Er wurde immer wieder aufgelegt. Unser Beispiel entstand 1696 in der Stadt Basel.

Das Problem, das das Corpus Iuris Canonici für alle ambitionierten Fürsten stellte, kann diese Karte des Heiligen Römischen Reichs aus dem Jahr 1648 nur andeuten. Kirchliche Territorien (hier violett) standen nicht unter landesherrlichem, sondern unter kirchlichem Recht. Wer sein Gebiet vereinheitlichen wollte, strebte danach, den Einfluss der katholischen Kirche – und natürlich ihres Rechts – zurückzudrängen.

Luther verbrennt die päpstliche Bulle und das kanonische Recht vor Wittenberg. Buchillustration des 19. Jahrhunderts.

Dies war wohl der wichtigste Grund für den Erfolg der Reformation. Luther ließ sich mit seinen Aussagen prächtig instrumentalisieren. Vielen Fürsten gefielen seine Beschreibungen des kanonischen Rechts als „Schale des göttlichen Zorns“ und „vergiftetes Recht“, nicht nur im 16. Jahrhundert. Noch während des Kirchenkampfs im 19. Jahrhundert wurde Luther von den Gegnern kirchlicher Institutionen instrumentalisiert.

Quasimodo trägt Esmeralda in die Kirche. Buchillustration des 19. Jahrhunderts.

In denselben historischen Zusammenhang gehören kirchenfeindliche Romane wie Victor Hugos Glöckner von Notre Dame. Sein Autor greift darin ein Privileg auf, das die katholischen Kirchen von den Tempeln der griechischen Antike übernommen hatten, das Asylrecht. In einer berühmten Szene schnitt Quasimodo Esmeralda vom Galgen und trug sie blitzschnell in die nahegelegene Kathedrale, „wobei er das junge Mädchen über seinen Kopf hob und mit fürchterlicher Stimme schrie: ‚Asyl!‘“ So rettete er ihr vorerst das Leben.

Um das Corpus Iuris Canonici leichter verwendbar zu machen, sind spätere Fassungen mit verschiedenen Indices ausgestattet. Dieser Index sortiert die Erlasse nach den Päpsten, die sie verabschiedet haben.

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Charles de Secondat, Baron de Montesquieu.
Herausgegeben 1749 in Amsterdam bei Zacharie Chatelain.
Herausgegeben 1804 in Paris von Pierre und Firmin Didot.

Station 4: Die Aufklärung und der Schrei nach Gerechtigkeit

Im 18. Jahrhundert herrschte in Frankreich ein absolutistischer Monarch und große Ungerechtigkeit. Nicht nur zwischen König und Untertanen, sondern auch innerhalb der Untertanen selbst. Privilegien waren ungleich verteilt, so mussten Bauern und Bürger beispielsweise Steuern zahlen, Adel und Kirche jedoch nicht.

Durch die Aufklärung verbreitete sich die Idee, dass eine andere Welt möglich sein könnte, innerhalb der aufstrebenden Bürgerschicht. So waren es die Bürger, die in der ersten Phase die Französische Revolution von 1789 befeuerten. Sie forderten ihre Mitwirkung an einem gerechten Staat.

Wie so ein Staat in den Augen der Aufklärer aussehen sollte, damit beschäftigt sich diese Station. Wir stellen Ihnen den Philosophen Montesquieu vor, der bis heute gültige Theorien dazu entwickelte. Den Namensgeber unseres zweiten Buchs kennen Sie vermutlich eher als Feldherrn denn als Gesetzgeber: Napoleon Bonaparte. Er setzte die Ideen der Aufklärung in seinem bürgerlichen Gesetzbuch, dem Code Napoléon, um.

4. 1 Wie ein gerechter Staat aussieht: Zur Theorie

Charles de Secondat, Baron de Montesquieu. De l’esprit des loix : Ou du rapport que les loix doivent avoir avec la constitution de chaque gouvernement, les mœurs, le climat, la religion, le commerce, &c.

Herausgegeben 1749 in Amsterdam bei Zacharie Chatelain.

Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1789.

In der Zeit der Aufklärung entstand eine Fülle radikal neuer Gedanken, die Europa sichtbar verändern sollten. Philosophen wie John Locke und Thomas Hobbes in England und Jean-Jacques Rousseau und Montesquieu in Frankreich stellten neue Theorien zu Menschenrechten und Regierungssystemen auf.

Viele ihrer Ideen sind bis heute Grundlagen unseres politischen Denkens:  

  • Dass alle Menschen frei geboren werden,
  • dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind,
  • dass nicht Gott dem Regierungsoberhaupt seine Macht verleiht, sondern das Volk,
  • oder dass der Staat seinen Bürgern Religionsfreiheit gewährt.

Diese Ideale wurden in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte niedergeschrieben und am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung verkündet.

Diese damals radikalen Feststellungen basierten auch auf dem Hauptwerk des Philosophen Montesquieu, mit vollem Namen Charles de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu. Er stammte also selbst aus einer adligen und damit privilegierten Familie. Montesquieu war ein Verfechter der konstitutionellen Monarchie, zu Beginn der Revolution eine weit verbreitete politische Haltung.

Sein Hauptwerk Vom Geist der Gesetze (= De l’esprit des loix) übt Kritik am absolutistischen Regime in Frankreich. Es gehört zu den einflussreichsten Werken der Staatsphilosophie und beschreibt die drei Regierungsformen Monarchie, Republik und Despotie, und versucht zu verstehen, auf Grund welcher Faktoren Regierungen scheitern oder erfolgreich sind.

Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika wird unterzeichnet. Gemälde von Howard Chandler Christy von 1940.

Die wichtigste Idee, die Montesquieu der Nachwelt hinterließ, ist die Gewaltenteilung als verfassungsrechtliches Prinzip, auch wenn man dieses Prinzip damals noch nicht so nannte. So schrieb Montesquieu: „Es gibt ferner keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden getrennt ist.“ Seine Idee wurde mit dem Prinzip der „checks and balances“ 1787 erstmals in der Verfassung der Vereinigten Staaten festgeschrieben.

Inhaltsverzeichnis, Vom Geist der Gesetze.

Montesquieu unterscheidet in seinen Kapiteln zwischen „Des Loix de la Nature“ und „Des Loix positives“: Vom Naturrecht und vom positiven Recht. Diese Unterscheidung gewann zur Zeit der Aufklärung große Bedeutung.

Als Naturrechte definiert Montesquieu Rechte, die seiner Ansicht nach allen Menschen gleichermaßen zustehen. Seine Naturrechte sind die Vorläufer unserer heutigen Menschenrechte, wie etwa das Recht auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit.

Positives Recht hingegen ist für ihn das vom Menschen gemachte Gesetz. Es ist nicht wie das Naturrecht an Vernunft- oder Moralvorstellungen gebunden, sondern setzt Interessen des Gesetzgebenden durch.

Eine Schrift wie der Geist der Gesetze konnte in Frankreich nicht gedruckt werden. Der König verfügte über eine Zensurbehörde, die jedes Werk, das in seinem Land publiziert werden sollte, vor der Publikation überprüfte. Deshalb wurde dieses Buch in Amsterdam produziert, wo es zwar auch eine Zensurbehörde gab, die aber hinsichtlich ihrer Verbote andere Schwerpunkte setzten.

Vom Geist der Gesetze, deutsche Übersetzung.

Das Buch verbreitete sich trotz – oder gerade wegen – des Verbotes in Frankreich in ganz Europa. Es galt als kultiviert, sich auf Montesquieu zu berufen. So schrieb der Übersetzer der deutschen Ausgabe im Vorwort, Montesquieus Abhandlung sei „ein Werk, das nicht für Eine Nation, sondern für alle kultivierten Nationen des Erdbodens geschrieben zu seyn schien“.

Und tatsächlich lag im englischen Unterhaus ein Exemplar des Buches; Katharina die Große behauptete, in Montesquieu Inspiration für Reformationen in Russland gefunden zu haben; und der König von Sardinien ließ verlauten, er habe aus diesem Buch die Kunst des Regierens gelernt. Selbstverständlich änderten weder Katharina die Große noch der König von Sardinien die absolutistische Grundlage ihres Staates.

4.2 Ein aufgeklärtes Gesetz für Europa: Der Code Civil

Code Civil des Français, dans une seule série de numéro, conformément a la loi du 30 ventose an XII, comprenant 2281 articles.

Herausgegeben 1804 in Paris von Pierre und Firmin Didot.

Europa im Jahre 1812. Die blauen Gebiete standen unter napoleonischer Kontrolle.

Während der Revolutionskriege zeigte ein aus Korsika stammender General ein besonderes militärisches Geschick: Napoleon Bonaparte. Die Armee verehrte ihn für seine erfolgreichen Feldzüge. Mit ihrer Unterstützung putschte er sich im November 1799 an die Spitze der Französischen Republik.

Mit seiner „Grande Armée“ eroberte er weite Teile Europas. Zwischenzeitlich kontrollierte er Spanien, Italien, die Schweiz, umfangreiche Gebiete Deutschlands und Polens. Als die Ära Napoleon 1815 mit der Schlacht von Waterloo endete, ließen sich viele seiner Neuerungen nicht mehr zurücknehmen.

Napoleon als Gesetzgeber: Die Inschrift lautet in Übersetzung Überall da, wo meine Herrschaft stattfand, hat sie dauerhafte Spuren ihrer Wohltat hinterlassen.

Napoleons Gesetzbücher prägten Europa nachhaltig. Der Code Civil, das erste Bürgerliche Gesetzbuch, verankerte die Ideale der französischen Revolution in der Rechtsprechung. Er fußt auf der Gleichheit aller Bürger, dem Schutz des Privateigentums und der Trennung von Kirche und Staat.

Dem 1804 veröffentlichten Code Civil folgten vier weitere Gesetzbücher: Mit dem Code de procédure civile (Zivilprozessordnung), dem Code de commerce (Handelsgesetzbuch), dem Code d’instruction criminelle (Strafprozessordnung) und schließlich dem Code pénal (Strafgesetzbuch) entstand ein umfassendes Gesetzeswerk.

Da der Code Civil nicht nur in Frankreich galt, sondern auch in allen von Frankreich annektierten Gebieten, verbreitete er sich in weiten Teilen Europas – und mit ihm die Ideale der französischen Revolution.

Der erste Band der napoleonischen Gesetzestexte, das zivile Gesetzbuch, befasste sich mit dem Privatrecht. Es regelte Angelegenheiten wie den Besitz von Eigentum, Erbrecht oder Ehescheidung. Eine entscheidende Neuerung war, dass der Code Civil die Bürger nicht mehr in Stände aufteilte, sondern gleich behandelte. Damit machte er eins der drei wichtigen Schlagworte der Revolution – Gleichheit – rechtlich bindend – allerdings nur für Männer.

Seit dem 20. September 1792 kann man in Frankreich eine Zivilehe schließen. Zeitgenössische Darstellung einer nicht-kirchlichen Trauung im Rathaus von Bordeaux.

Eine weitere Errungenschaft der Revolution, die mit Napoleon Rechtsgültigkeit erlangte, war die Trennung von Kirche und Staat. Bereits 1789 hatte die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte festgehalten: „Niemand soll wegen seiner Anschauungen, selbst religiöser Art, belangt werden, solange deren Äußerung nicht die durch das Gesetz begründete öffentliche Ordnung stört.“ Praktisch bedeutete das, dass in Frankreich seit dem 20. September 1792 die Zivilehe und damit verbunden die Scheidung möglich wurde.

Italienischer Kommentar zu den Erbrechtsregelungen im Code Civil.

Napoleon war stolz auf seine Leistung als Gesetzgeber. So soll er folgendes gesagt haben: „Mein wahrer Ruhm besteht nicht darin, dass ich vierzig Schlachten gewonnen habe […]. Was immer bleiben wird, ist mein Code civil.“

Tatsächlich bürgerte sich sein Gesetzbuch in allen von Frankreich beherrschten Gebieten ein. 1806 wurde es im Königreich Italien eingeführt, zu dessen Herrscher sich Napoleon im Vorjahr hatte krönen lassen. Dafür musste das Gesetzbuch ins Italienische übersetzt und von führenden Juristen kommentiert werden. So einen Kommentar sehen wir in unserer Station.

Deutsche Ausgabe der napoleonischen Gesetzestexte.

In der Schweiz galt der Code Napoléon sowohl in Genf als auch im Berner Jura, die beide von Frankreich annektiert waren. In Deutschland übernahmen ihn die annektierten linksrheinischen Gebiete sowie die neu eingerichteten Rheinbundstaaten.

Doch auch Staaten, in denen Napoleon nie direkt geherrscht hatte, reagierten in ihren Gesetzbüchern auf die neuen Ideen. So stammt unsere deutsche Übersetzung aus dem Jahr 1826, wurde also lange nach dem Ende der Ära Napoleon publiziert. Übersetzungen wie diese wurden zur Grundlage der zahlreichen Gesetzbücher, die im 19. Jahrhundert entstanden, und deren Gesetze im Bürgerlichen Gesetzbuch Deutschlands und im Zivilgesetzbuch der Schweiz weiterleben.

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Acten-mäßige Relation Von Denen beyden Schloß-Dieben zu Berlin Valentin Runcken
Verlegt und vertrieben von Johann Andreas Rüdiger, Berlin 1720.
Wer einmal aus dem Blechnapf frißt
Hans Fallada
Erstveröffentlichung 1934, diese Ausgabe 1978 im Aufbauverlag Ostberlin.

Station 5: Schuld und Strafe

Wer gegen geltendes Recht verstößt, der wird bestraft. Dieser simple Grundsatz ist so alt wie die Rechtsprechung selbst. Doch wie bestraft man einen Täter und was will man mit der Strafe erreichen? Darüber gab und gibt es verschiedene Vorstellungen.

„Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme“, so lautet ein biblischer Rechtsgrundsatz. Auf ihm basierte die Vorstellung, dass eine Gemeinschaft Gottes Willen erfüllte, wenn sie den Täter dem Verbrechen angemessen bestrafte. Als angemessen galt damals die Körperstrafe. Einen Verbrecher zu „belohnen“, indem man ihm in einem Gefängnis die Sorge um sein leibliches Wohl abnahm, während rechtschaffene Menschen gleichzeitig hungerten, wäre einem Richter der frühen Neuzeit nicht in den Sinn gekommen.

In diese Zeit führt uns unser erstes Beispiel, ein Bericht über einen Diebstahl im Berliner Schloss und seine Bestrafung. Unser zweites Beispiel stammt aus den 1930er Jahren, als man diskutierte, ob eine Strafe nicht die Möglichkeit zur Resozialisierung beinhalten solle.

5-1 „...von unten auf gerädert und also vom Leben zum Tode gebracht.“

Die Verurteilten werden vom Berliner Stadtschloss zur Hinrichtungsstätte gebracht und dabei bereits mit glühenden Zangen gekniffen.

„Hat er aber gemordet, so muss er sterben“. Dieser Satz stammt nicht aus einem mittelalterlichen Gesetzesbuch, sondern vom großen Aufklärer Immanuel Kant. Für ihn war, wie für die meisten Vertreter der Aufklärung, die Abschaffung der Todesstrafe kein Thema, wenn es um Mord und andere Kapitalverbrechen ging.

Was damals als Kapitalverbrechen bezeichnet wurde, unterscheidet sich grundlegend von heute, wie die detaillierte Beschreibung eines Gerichtsprozesses in Berlin zeigt, an dessen Ende zwei besonders brutale Hinrichtungen standen:

Am 8. Juni 1718 wurden der Kastellan des Stadtschlosses Valentin Runck und der Hofschlosser Daniel Stieff zur Richtstätte außerhalb der Stadt gebracht. Dort erwartete sie vor den Augen schaulüsterner Zuschauer der Tod durch Rädern, also durch das Brechen der Knochen und zwar von unten nach oben. Dies war die schlimmere Variante. Ein gnädiger Richter entschied auf Rädern von oben nach unten, was schneller zum Tode führte.

Die Hingerichteten weder Massenmörder noch Kinderschänder, sie waren kleine Gelegenheitsdiebe.

Ihr großer Fehler war, nicht irgendjemanden zu bestehlen, sondern ausgerechnet den König von Preußen. Damit machten sie sich eines Majestätsverbrechens schuldig, das in den Augen der Zeitgenossen schlimmer war als Mord oder Todschlag. Schließlich galt der König im 18. Jahrhundert noch als Herrscher von Gottes Gnaden. Die Diebe hatten also nicht nur wider den König, sondern wider Gott versündigt.

Der Kastellan, eine Art königlicher Hausmeister, hatte den Hofschlosser angestiftet, die Schränke der königlichen Münzsammlung aufzubrechen. Immer wieder bedienten sich die beiden daraus, bis ein Goldschmied, bei dem der Schlosser mit einer antiken Goldmünze bezahlen wollte, den Prozess ins Rollen brachte.

Der König reagierte auf dieses Majestätsverbrechen. Wer von der Tat wusste, sollte auch die Strafe miterleben. Die königliche Macht wurde öffentlich demonstriert und für all diejenigen, die nicht selbst zur Hinrichtung nach Berlin kommen konnten, ließ er den Prozess und die Strafe in einem mit mehreren Kupferstichen illustrierten Buch darstellen.

In den Verhandlungsakten, die der Publikation zu Grunde lagen, wurde der ganze Prozess samt Verhörprotokollen und Zeugenaussagen ausführlich dokumentiert. Diese Seiten listen die gestohlenen Stücke detailliert auf.

Eine Hinrichtung war mehr als ein Akt, mit dem ein Mensch vom Leben zum Tod befördert wurde. Sie war eine Demonstration, mit der die Taten eines Menschen für alle sichtbar eingeordnet wurden. Deshalb kennen wir die Praxis der posthumen Exekution, also der öffentlichen Hinrichtung bereits toter Menschen. Dieses Bild zeigt die posthume Hinrichtung eines Hochverräters, der seiner Verurteilung durch Selbstmord zuvorkommen wollte. Er wird in seinem Sarg „erhängt“.

Friedrich der Große (am Fenster) bei der Hinrichtung Hans Hermanns von Katte.

Dieselbe Geisteshaltung steht hinter der zumeist romantisch verklärten Hinrichtung des Hans Hermann Katte, Freund und Fluchthelfer des preußischen Thronfolgers Friedrich II. Der hatte mit der Unterstützung des Fluchtversuches Landesverrat begangen, ein Verbrechen, das im Jahr der Flucht – 1730 – in allen europäischen Nationen mit der Todesstrafe geahndet worden wäre.

Erst mehr als ein halbes Jahrhundert später schaffte das Großherzogtum Toskana als erste europäische Macht im Jahr 1786 die Todesstrafe ab. In der Schweiz fand die letzte zivilgerichtliche Hinrichtung im Jahr 1940 statt.

5. 2 Eine Chance auf Besserung?

Wer hingerichtet wird, dem nimmt man die Chance, sein Leben zu ändern. Ganz anders bei der Gefängnisstrafe. Um 1800 löste der geregelte Freiheitsentzug die Körperstrafe als Regelstrafe ab. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Gesellschaft bereits Erfahrung darin, unliebsame Subjekte in Arbeits- und Zuchthäuser wegzusperren oder in die Kolonien zu verschicken, wo sie durch harte Arbeit selbst für ihren Unterhalt aufkommen und – so zumindest die Theorie – für die Gesellschaft einen Mehrwert erarbeiten sollten. Damit verband sich die Vorstellung, dass so eine Strafe dem Straftäter die Chance gibt, sich zu einem besseren Menschen zu entwickeln.

In der Praxis war dies schwer bis unmöglich. Wer einmal im Gefängnis gesessen hatte, wurde soziale geächtet und hatte kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung.

Ein Beispiel dafür bietet das Schicksal des fiktiven Kleinkriminellen Willi Kufalt, das der Schriftsteller Hans Fallada in seinem Roman Wer einmal aus dem Blechnapf frisst von 1934 schildert: Willi Kufalt wird nach fünf Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen. Er will ein anständiges Mitglied der Gesellschaft werden, doch seine Vergangenheit holt ihn immer wieder ein. Als er von seinem Arbeitgeber wegen seiner kriminellen Vergangenheit zu Unrecht verdächtigt und entlassen wird, verlässt ihn seine Verlobte und seine mühsam aufgebaute Existenz bricht zusammen. Er sieht keinen anderen Ausweg mehr, als erneut straffällig zu werden und „beweist“ damit die Wahrheit des Sprichworts: Wer einmal aus dem Blechnapf frisst – also im Gefängnis sitzt –, der tut es immer wieder.

1993 ehrte die Deutsche Bundespost Hans Fallada mit einer Briefmarke.

Hans Fallada (1893-1947, eigentlich Rudolf Ditzen) skizzierte in seinem Roman ein Milieu, das er selbst nur zu gut kannte. Auch er hatte in seinem von Morphin- und Alkoholsucht geprägten Leben wiederholt in psychiatrischen Einrichtungen und in Gefängnissen gesessen. Willi Kufalt trägt autobiographische Züge.

Hans Fallada sagte selbst über seinen Roman:

„Nicht aus Freude am Abenteuerlichen, nicht als echte Milieuschilderung wirklicher ‚Unterwelt‘ wird der Roman geschrieben, sondern um zu zeigen, wie der heutige Strafvollzug und die heutige Gesellschaft den einmal Gestrauchelten zu immer neuen Verbrechen zwingt. Die Strafe macht ihn untüchtig zum tätigen Leben des Bürgers, die Gesellschaft will ihn nicht in diesem tätigen Leben. Der kleine Lump Kufalt strampelt sich ab, noch in seinen schlimmsten Viechereien schimmert eine Goldader Menschentum ..., aber doch, aber doch, unentrinnbar, gegen seinen Willen, ohne seinen Willen, wird er das, was die Umwelt will, daß er es wird: ein bißchen Kot, eine Mikrobe, bösartig, die man vernichten muß.“

Im Vorwort der Erstauflage 1934 versuchte Fallada, dem Verbot durch die Nazis zu entgehen, indem er die Kritik des Buchs auf das „alte“ System der Weimarer Republik bezog – vergeblich. Gleich nach dem Ende des dritten Reichs gab es einen Neudruck, dessen Vorwort wir hier sehen. In der DDR wurden Falladas Werke wegen ihrer Sozialkritik sehr populär und in der vorliegenden Ausgabe der „Taschenbibliothek der Weltliteratur“ mit enormen Auflagezahlen gedruc

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Der Graf von Monte Christo
Alexandre Dumas
Erschienen 2019 beim dtv. Deutsche Erstausgabe von 1846

Station 6: Populärkultur damals und heute: Die Faszination der privaten Rache

Im einfachsten Sinne heißt Rache, dass Einer dem Anderen ein Unrecht tut, und der Andere dem Einen danach ebenfalls ein Unrecht tut, um Gerechtigkeit wiederherzustellen. Im juristischen Sinne kann man Rache als archaisches, vor-rechtliches Instrument verstehen, das im Laufe der Geschichte durch das Strafrecht ersetzt wurde. Nicht mehr das Individuum war verantwortlich für die Bestrafung einer Tat, sondern der Staat. Das Strafmaß wurde genau geregelt und in Paragraphen festgehalten. Scheinbar können aber auch die besten Rechtssysteme der Welt nie absolut gerecht sein, sodass die private Rache außerhalb der Gerichtssäle nie vollständig ausmerzen wurde.

Stellen Sie sich vor, Ihre 16-jährige Tochter wird von einem betrunkenen Autofahrer überfahren. Der Fahrer muss den Führerschein abgeben und wird wegen fahrlässiger Tötung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Fänden Sie das gerecht? 3 Jahre für das Leben Ihrer Tochter? Hieran sehen wir das schwierige Verhältnis von Tat und Strafmaß, das nie absolut sein kann, sondern häufig eine sehr subjektive Komponente miteinschließt. Denn letztendlich ist menschliches Leiden nicht quantifizierbar und wird in den meisten Fällen nicht durch ein Gerichtsurteil gemildert.

Vielleicht sind solche blinden Flecken im System der Grund für die anhaltende Faszination mit der privaten Rache. Um genau die soll es in unserer letzten Station gehen. Obwohl Rache an sich kein modernes Konzept ist, erfreut sie sich auch in unserer heutigen Popkultur immer noch größter Beliebtheit. Wir werfen einen Blick auf die Entstehung des modernen Racheplots, von den Zeitungsromanen des 19. Jahrhunderts bis hin zu Quentin Tarantinos Filmen des 21. Jahrhunderts, vom Grafen von Monte Christo bis zu Kill Bill.

6.1 Rache ist ein einträgliches Geschäft

Karikatur des Alexandre Dumas aus dem Jahr 1866. Sie nimmt Bezug auf einen anderen Erfolgsroman aus der Feder von Dumas: Die drei Musketiere.

Der Begriff Popkultur meint in der Regel, dass Kulturgüter wie Zeitschriften, Filme oder CDs in sehr großen Mengen produziert und konsumiert werden. Entstanden ist er Anfang des 20. Jahrhunderts, als es auf einmal die technischen Möglichkeiten gab, viele dieser Dinge als Massenware herzustellen.

Der Beginn dieser Entwicklung liegt allerdings im 19. Jahrhundert, als Printmedien billiger wurden, und Zeitungsverleger das Potenzial eines riesigen Marktes erkannten. Sie begannen, Romane nicht mehr als Ganzes zu veröffentlichen, sondern portionsweise, in jeder neuen Ausgabe eine weitere Folge der Geschichte.

Der Zeitungsroman, auch Feuilleton- oder Fortsetzungsroman genannt, arbeitete also gezielt daraufhin, den Kunden langfristig an das Medium zu binden. Diese enge Verknüpfung von Kunst und Kapitalismus ist ein weiteres typisches Merkmal der Popkultur.

Alexandre Dumas’ Der Graf von Monte Christo war genau so ein Zeitungsroman. Der Verleger arbeitete schon damals mit „Cliffhangern“, d.h. er ließ die einzelnen Episoden mit dem Vermerk „La suite à…“ (Fortsetzung folgt) an einer besonders spannenden Stelle enden, um Leser zum Kauf einer weiteren Ausgabe zu animieren. Kurz vor Jahreswechsel baute er sogar eine mehrwöchige Pause ein, damit seine Kunden ihr Zeitungsabonnement auch über das nächste Jahr verlängern würden.

Dantes auf der Flucht. Titelblatt eines zeitgenössischen Groschenhefts.

Dumas’ Roman erzählt die Geschichte des jungen Seefahrers Edmond Dantes. In der Blüte seines Lebens – er wurde soeben zum Kapitän befördert und ist glücklich in die schöne Mercedes verliebt – wird dieser durch eine Intrige seiner Nebenbuhler unschuldig zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach Jahren gelingt ihm die Flucht. Er gelangt mithilfe eines Schatzes zu neuem Reichtum, legt sich einen neuen Namen zu – der Graf von Monte Christo – und beginnt den langwierigen Rachefeldzug gegen seine früheren Widersacher. Viele Menschen müssen sterben, bevor er schließlich lernt, zu verzeihen.

Dumas’ Roman spielt in einer Zeit, in der Frankreich von politischen Unruhen und vielen Machtwechseln geprägt war. Die Konfliktlinien zwischen Bonapartisten und Royalisten, den zwei großen politischen Lagern der Zeit, spiegeln sich im Text. Eine Generation der Figuren steht symbolisch für die alte Garde der Bonapartisten, die im Buch mit ehrlich verdientem Geld, Idealismus und Aufrichtigkeit verknüpft werden. Die werden der neuen Garde, den Royalisten, gegenübergestellt, die als Opportunisten und Karrieristen nur auf moralisch fragwürdige Weise zu Geld kommen. In diesem Sinne rechnet Der Graf von Monte Christo nicht nur mit privaten Ungerechtigkeiten ab, sondern auch mit den politischen Zuständen seiner Zeit.

Château d’If.

Als Inspiration dienten Dumas wahre Begebenheiten und Orte wie das Château d’If, eine Festung vor der Küste Marseilles, die zeitweise als Gefängnis genutzt wurde, oder die Insel Monte Christo. Im Roman verhilft ein Mitinsasse Edmond Dantes zur Flucht aus dem Chateau und verrät ihm das Versteck eines verborgenen Schatzes auf der Insel Monte Christo, den Dantes erfolgreich hebt. Wenn sich das irgendwie bekannt anhört, ist das vermutlich kein Zufall. Filme und Serien wie Die Verurteilten oder Prison Break haben diese Idee aufgegriffen und über den Roman hinaus bekannt gemacht.

Die Figur des Edmond Dantes kehrt, nachdem sie ein großes Unrecht erfahren hat, unter falschem Namen und in neuem Gewand in die Gesellschaft zurück, um Gerechtigkeit walten zu lassen. Dieses Muster diente als Vorlage für viele Superheldengeschichten. Man denke nur an Peter Parker, der nach dem Tod seines geliebten Onkels Ben durch die Hände eines Verbrechers zu Spiderman wird, um fortan auf Verbrecherjagd zu gehen.

Nun ist Rache aber nicht oder nicht immer mit Gerechtigkeit gleichzusetzen, auch wenn der rächende Held das gerne glauben würde. Häufig wird eben nicht Gleiches mit Gleichem vergolten – nach der Losung Auge und Auge, Zahn um Zahn. Stattdessen kann Rache eine Eigendynamik entwickeln, die Unschuldige trifft, zum Beispiel wenn sie sich gegen Familienmitglieder der eigentlichen Übeltäter richtet. So sterben auch im Monte Christo Ehefrauen, Töchter und Söhne, die mit dem ursprünglichen Verrat an Dantes nichts zu tun hatten.

Die Rachegöttin Nemesis und Dike verfolgen den Verbrecher. Gemälde von Pierre Paul Prud’hon, 1808.

Was fasziniert Leser wohl derart an der Geschichte des mysteriösen Grafen, dass sie praktisch seit ihrer Erstveröffentlichung reißenden Absatz fand? Vielleicht ist es die Tatsache, dass sie gleichzeitig zwei grundlegende Bedürfnisse bedient. Einerseits wimmelt es in Dumas’ Werk von Intrigen, Abgründen, verbotenen Affären und menschlicher Bosheit, was der Sensationslust des Lesers entgegenkommt. Andererseits befriedigt es die tiefsitzende Sehnsucht nach Gerechtigkeit und danach, dass die Bösen am Ende ihre verdiente Strafe erhalten.

© Buena Vista Pictures. Image subjected to fair use criteria.

Um seinen ausschweifenden Lebensstil zu finanzieren, musste Alexandre Dumas unzählige Romane schreiben. Dafür engagierte er einen Helfer: Auguste Maquet war für die Eckpfeiler der Handlung verantwortlich, während Dumas als Theaterautor mit Vorliebe Dialoge schrieb. Ein gutes Geschäftsmodell.

Dies war nicht das einzige Mittel, um den Profit zu steigern. Der gleiche Stoff wurde clever für mehrere Formate genutzt. Sobald genug Seiten einer Geschichte in der Zeitung erschienen waren, wurden sie als Buch veröffentlicht. Nach dem Erfolg des Monte Christo in Print machte Dumas daraus ein Theaterstück und nutzte die schon daraufhin angelegten Dialoge. Im 20. Jh. kamen Musicals, Comics, TV-Serien und unzählige Filme hinzu. Schätzungen zufolge soll es seit 1920 alle 18 Monate eine neue Verfilmung gegeben haben. Damit war Der Graf von Monte Christo vielleicht das erste erfolgreiche Rache-Epos in den Kinos – aber sicher nicht das letzte.

6.2 „I will have vengeance!“: Rache auf der großen Leinwand

Sweeney Todd – Der teuflische Barbier aus der Fleet Street. Regie: Tim Burton, 2007.

V for Vendetta. Regie: James McTeigue, 2006.

Kill Bill – Volume 1. Regie: Quentin Tarantino, 2003.

Die Tendenz, einen Inhalt auf möglichst vielen Kanälen zu vermarkten, hat sich bis heute noch verstärkt. So gibt es regelrechte Film-Franchises wie Star Wars, die Filme, Serien, Spielfiguren, Fanartikel, Bücher und mehr produzieren. Dass dieselbe Geschichte schon mal in einem anderen Medium erzählt wurde, scheint nicht zu stören. Es geht weniger um den Neuheitswert als um eine gelungene Adaption. So haben auch die drei Filme, an denen wir Ihnen exemplarisch verschiedene Facetten der Rache zeigen wollen, historische Vorgänger.

In Tim Burtons Sweeney Todd wird der Barbier Benjamin Barker unschuldig ins Gefängnis geworfen und rächt sich nach seiner Freilassung am Richter, der seine Frau misshandelt und umgebracht hat. In V for Vendetta übt ein Freiheitskämpfer Rache an einem totalitären Staat, der seine Macht zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und illegalen Experimenten an seinen Bürgern missbraucht hat. Und in Quentin Tarantinos Kultfilm Kill Bill sucht die Heldin, Beatrix Kiddo, Vergeltung für den Mordversuch an ihrer eigenen Person. Nachdem sie diesen nur knapp überlebt hat, begibt sie sich auf die tödliche Mission, ihren Ex-Mann und alle Beteiligten der Reihe nach abzuschlachten.

Alle hier vorgestellten Filme enthalten exzessive, graphische Darstellungen von Gewalt. In Tarantino-Filmen sprudelt das Blut nur so aus aufgeschlitzten Menschen heraus, Kill Bill ist da keine Ausnahme. Der Barbier in Sweeney Todd hat ein recht makabres Hobby, er dreht seine Mordopfer kurzerhand durch den Fleischwolf und verkauft sie nebenan in der Bäckerei als Pastetenfüllung.

Mit Sigmund Freud könnte man spekulieren, dass wir in unserer heute sehr kontrollierten, reglementierten und Video-überwachten Welt ein Ventil für unsere archaischen Gewaltfantasien suchen. Kunst und Unterhaltung bieten schon immer eine Projektionsfläche, um solche Emotionen oder Fantasien erfahrbar zu machen, ohne sie umsetzen zu müssen.

Gleichzeitig können Filme eine sichere Distanz zu diesem Gewaltgeschehen schaffen, in Sweeney Todd zum Beispiel durch historische Entfernung, stilistische Überzeichnung und musicalartige Gesangseinlagen.

© Paramount; Warner Bros.

Rache ist nie eine Reaktion auf Schicksalsschläge, sondern immer auf das absichtliche Handeln von Personen. An der Natur kann man sich nicht rächen, an einem Menschen schon. Das besingt auch Sweeney Todd: „Denn in der menschlichen Rasse / Mrs Lovett, gibt es zwei Arten von Menschen und nur zwei / Der eine bleibt an seinem richtigen Platz / und der Andere mit dem Fuß in des einen Gesichts . . . Ich werde meine Rache bekommen.“ Richter Turpin, der seine Macht wissentlich für eigennützige Zwecke missbraucht hat, ist „der Andere mit dem Fuß in des einen Gesichts“. Dafür muss er büßen

Die Geschichte von Sweeney Todd wurde übrigens fast gleichzeitig mit Dumas’ Graf von Monte Christo erstveröffentlicht und zwar auch in Serienformat. Hier sehen Sie eine Illustration der Geschichte, die 1846–47 noch unter dem Titel The String of Pearls lief. Sie wurde als „Penny Dreadful“ verkauft, also als Groschenroman, einem Format, das sich in England damals größter Beliebtheit erfreute.

Der Barbier schlitzt einem seiner Opfer die Kehle auf. Illustration aus einem zeitgenössischen Groschenroman.

Auch inhaltlich weisen Sweeney Todd und Der Graf von Monte Christo einige Parallelen auf. In beiden Geschichten begehrt der Gegenspieler des Helden dessen Frau und bringt ihn mithilfe einer korrupten Justiz unschuldig ins Gefängnis. Aus der Haft kehren beide Titelhelden unter dem Deckmantel einer neuen Identität zurück, um sich zu rächen. Drittens stammen beide Hauptfiguren aus bescheidenen Verhältnissen. Damit erzählen die zwei Werke auch den Kampf des kleinen Mannes gegen die Mächtigen in der Gesellschaft.

© Warner Bros.

Das italienische Lehnwort Vendetta heißt so viel wie ‚Blutrache‘ und meint insbesondere Vergeltungsschläge an verfeindeten Familienmitgliedern im Rahmen einer Fehde. Der Bezug hierauf ist in V für Vendetta sehr lose, denn eigentlich geht es um einen politischen Aktivisten, der sich am Staat rächt. Neben der Missachtung praktisch aller Bürger- und Menschenrechte, hatte das totalitäre Regime an ihm und anderen Menschen grausame Experimente durchgeführt. Diese überlebt er nur knapp und macht sich unter dem Decknamen „V“ daran, Vergeltung zu üben, indem er führende Mitglieder des Regimes tötet und das Parlament in die Luft sprengt.

Guy Fawkes. Zeichnung aus William Harrison Ainsworths Roman von 1840.

Die historische Inspiration hinter V für Vendetta stammt aus England. Am 5. November 1605 versuchte eine Verschwörung um Guy Fawkes den protestantischen König Jakob I. samt Parlament in die Luft zu jagen. Der sogenannte „Gunpowder Plot“ (dt. Pulververschwörung) sollte ein Vergeltungsschlag für die Unterdrückung der Katholiken im Land sein. Das Attentat blieb zwar erfolglos, grub sich aber tief ins englische Nationalbewusstsein ein. Der 5. November wird mit Feuerwerk zelebriert, wobei die einen den Triumph der Monarchie über die Anarchie feiern, die anderen den Widerstand gegen die Regierung aus dem Untergrund.

Mit den Comics von Alan Moore und Zeichner David Lloyd aus den 1980ern wurde die Maske, die an Guy Fawkes erinnern soll, zunehmend populär. Spätestens aber seit der Verfilmung von 2005 entwickelte sie ein Eigenleben und wurde zum Symbol für den Kampf gegen repressive Regime überhaupt. Erst wurde sie von den Internetaktivisten von Anonymous getragen, dann 2011 bei den Occupy Wall Street Protesten und in jüngster Vergangenheit bei den Protesten in Hong Kong.

© Weinstein/Columbia. Image subjected to fair use criteria.

Quentin Tarantino und das Thema der Rache sind so eng miteinander verknüpft, dass man wohl eine komplette Ausstellung nur dazu gestalten könnte. Rache dominiert als Leitmotiv fast alle seine Filme. Dabei lässt sich ein gemeinsamer Nenner feststellen:

die unterdrückten Minderheiten der Realgeschichte bekommen in der Filmgeschichte die Chance, sich an ihren Unterdrückern zu rächen. So handelt Inglorious Basterds von der Rache der Juden an den Nazis, Django Unchained von der Rache der versklavten Schwarzen an den Sklavenhaltern und Kill Bill von der Rache misshandelter Frauen an den Männern.

© Miramax

Die Heldin in Kill Bill, Beatrix Kiddo, wird hochschwanger von ihrem Mann und Geschäftspartner erschossen, verliert ihr Kind, liegt jahrelang im Koma und wird dabei auch noch vergewaltigt. Als sie schließlich aus dem Koma erwacht, kann sie nicht zur Polizei gehen, weil sie selbst früher Auftragskillerin war und sich damit außerhalb des staatlichen Rechtssystems bewegte. Als Publikum empfinden wir ihre Rache trotzdem als gerecht. Dass sie wie durch ein Wunder überlebt, interpretiert die Protagonistin als Zeichen dafür, dass Gott auf ihrer Seite steht. Die Symbolik ist außerordentlich wichtig, denn andernfalls wäre sie keinen Deut besser als ihr Ex-Mann: eine einfache Mörderin.


Recht, Gerechtigkeit, Rache - oder auch Vergebung: So unterschiedlich diese Begriffe interpretiert, ausgeübt und beurteilt werden, sie stehen im Zentrum jeder Gesellschaft, die aus Menschen besteht, aus Menschen, die in sich die Möglichkeit tragen, falsch zu handeln. Und die danach mit den durch ihre Tat Geschädigten weiterleben werden.